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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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– und fast noch mehr über den Heiligenschein, den sie mittels Airbrush auf ihrem Foto plaziert hatten. Haarsträubend die gespenstische Einleitungsstory GOTTES TOCHTER LANDET IN AMERIKA, falscher Text, völlig idiotisches Foto der Ektogenesemaschine (unter der falschen Überschrift: Echogenese-Maschine). Aber: ein Amt, ein geistliches Amt, dreihundert Dollar die Woche und ein geistliches Amt!
    Bei jedem Brief, den sie erhielt, bei jedem armen Teufel, dem sie half, hatte sie zwar mäßige Gewissensbisse, aber die vergingen wieder. Das war genau der richtige Beruf, der wunderbare Mittelweg, bescheiden genug, um ihre Feinde in die Irre zu führen, großartig genug, ihre Gottheit zu beschwichtigen. Und wirklich – als Phoebe fragte, ob sie in Julies Tempel einziehen dürfe – der war doppelt so groß wie ihr Schlafzimmer –, sagte Julie sofort ›natürlich‹, denn sie hatte keinen Bedarf mehr an ›Tempeln‹, Gewissensqualen, frei fließenden Schuldgefühlen. »Reiß die Zeitungsausschnitte runter, wenn du willst.«
    »Das überlaß ich dir«, sagte Phoebe.
    »Dann mach wenigstens die Läden auf.«
    »Ich mag die Dunkelheit.«
    Phoebe, die dunkle, die Höhlenbewohnerin. Wie vorherzusehen, baute Phoebe den Tempel gewissermaßen in die dritte Dimension aus, anstatt ihn leerzuräumen: ein Diorama vom Zusammenprall zweier Jets, ein Puppenhaus, das von Papierflammen verzehrt wurde, ein Gipsvulkan, der Wattequalm auf ein Plastikdorf im HO-Maßstab ausspie, ein Bündel Nuklearraketen. Dazu hatte sie an die gestohlenen Dynamitstangen aus dem ›Deauville‹ je ein Leitwerk aus Pappe angeklebt. »Warum sich quälen?« fragte Julie eines Dezembernachmittags, als Phoebe grade das Foto eines Babyleichnams aus der Time ausschnitt. Titelstory über die jüngste Zunahme von Kindesmißbrauch.
    »Weil du diesen Ort hier noch brauchst. Du hast bloß noch nicht verstanden, was er wirklich bedeutet.«
    »Ich brauch ihn so nötig wie ein Loch im Kopf.« Julie folgte Phoebe in den Tempel.
    »Ich habe jetzt ein geistliches Amt. Ich lebe in der Welt.«
    »Eine Ratgeberspalte ist kein geistliches Amt. Und ein Textcomputer ist nicht die Welt.« Phoebe klatschte Gummilösung auf den Ausschnitt und befestigte ihn über ihrem Bett. »Das ist die Welt – Eltern, die ihre eigenen Kinder totficken.«
    »Letzte Woche hab ich die Hotline-Nummer gebracht«, bemerkte Julie.
    »Ja, du und Ann Landers!«
    Gelegentliche Aufmunterung von ihrer besten Freundin – war das zuviel verlangt? Lob für einen gut geschriebenen Artikel oder einen klugen Vorschlag – kam das Phoebe nie in den Sinn? »Dieser Gelähmte schrieb zurück, weißt du? Er sagt, ich hab ihm den Willen zum Weiterleben gegeben.«
    »Einen Stein hast du ihm gegeben.«
    »Jedenfalls mehr, als er von meiner Mutter kriegt.«
    »Diese armen Frauen schreiben dir, weil sie etwas über Abtreibung erfahren wollen, und du hältst Vorlesungen über Augustinus!«
    »Abtreibung kann man halt nicht nur emotional betrachten.«
    »Ihre Männer schlagen sie!«
    »Ich geb ihnen immer die Adresse vom nächsten Frauenhaus.«
    »Adresse, Adresse! Hinfahren solltest du sie zum nächsten Frauenhaus!«
    Das Mittelstück von Phoebes Kommode war eine herausnehmbare Hausbar mit Miniaturflaschen, wie man sie in Flugzeugen bekommt; Julie kamen sie wie Spielzeug vor – Cocktailparty für Teddybären. Phoebe schraubte ein Bacardi-Fläschchen auf. »Schau, ich weiß, wir haben das schon so oft durchgekaut«, sagte sie. »Das Leiden der Welt ist grenzenlos, dieser Raum ist nicht einmal ein Abklatsch davon. Und doch…« Sie schüttete das Fläschchen in einen Becher mit der Aufschrift VERDAMMT, ICH BIN GOTT aus dem Smile Shop. »Ist das Beste, was du tun kannst, wirklich eine Kolumne? Ausgerechnet du, die das rote Meer teilen und das Ozonloch stopfen könnte? Statt dessen begnügst du dich damit, Ratgebertante in einem Revolverblatt zu spielen?« Sie trank den Rum in drei schnellen Schlucken. »Wenn ich deine Fähigkeiten hätte, Honey…«
    Offensichtlich hatte Phoebe ›Der Himmel hilft‹ nicht intensiv genug studiert, sonst hätte sie eingesehen, daß göttliche Eingriffe und Wunderheilungen der Vergangenheit angehörten. »Meine Mutter will, daß wir in unserer eigenen Zeit leben. Wenn eine Spezies sich auf das Übernatürliche fixiert, hört jede Entwicklung auf.«
    Phoebe machte den zweiten Bacardi auf und soff den Inhalt gleich aus der Flasche.
    »Wie willst du wissen, was Gott will? Wie willst du das,

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