Die Eingeschworenen Raubzug
zwischen die Fugen, und dann wird er steinhart.«
»Was bedeuten die Markierungen?«, fragte Einar und drehte den Kopf weg, weil ein plötzlicher Windstoß uns eine Staubwolke ins Gesicht blies.
Illugi hob die Schultern. »Eine Warnung? Ein Fluch? Bitte anklopfen? Ich wüsste bei diesen Bruchstücken nicht mal, wo ich anfangen sollte.«
»Es ist Latein«, sagte ich und fuhr mit dem Finger über die Sigillen. »Hier steht, dass dies das Grab von Spurius Dengicus ist, dem Khan der Kutriguren. Er wurde hierhergebracht und unter römischer Obhut von seinem Bruder Ernak begraben, der ein Freund Roms war.«
»Spurius Dengicus? Dann muss es ein Römer sein, kein Hunne«, sagte Eyjolf, den alle Finnbogi nannten, denn von dort kam er.
Illugi, der etwas darüber wusste, antwortete: »Sie gaben ihm bei der Beerdigung einen römischen Namen, das taten sie bei allen bedeutenden Männern, um sie zu ehren. Aber da keine der angesehenen römischen Familien ihren
Namen für einen Steppenfürsten hergegeben hätte, gaben ihnen die römischen Herrscher den Namen einer Familie, die ausgestorben war. Und deshalb«, so schlosss er, »heißen alle adoptierten Römer Spurius.«
So war es. Und bis heute wird jeder, der irgendwie zwielichtig ist oder vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist, in der Großen Stadt als Spurius bezeichnet.
»Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten?«, fragte Einar und sah Illugi an. »Ich meine, irgendwas, das uns helfen könnte?«
Mit gerunzelter Stirn fuhr ich über die verwitterten Buchstaben. »Hier steht noch etwas darüber, dass man seine Ruhe nicht stören soll«, sagte ich.
Wie aufs Stichwort kam ein fernes Geheul aus der dunklen Öffnung, ein Geräusch wie ein klagender Wolf, bei dem sich einem die Haare sträubten. Alle wichen zurück, selbst denen auf der Treppe war es nicht entgangen.
»Bei Odins Arsch«, sagte Großnase plötzlich, »was ist denn mit dem Himmel los?«
Der schien zum größten Teil verschwunden, verschluckt von einer riesigen schwarzen Wand. Und im selben Augenblick zuckten auch schon die ersten Blitze und ein Windstoß fuhr auf uns los wie der stinkende Atem eines Drachens und stach uns mit Regentropfen, die mit Sand vermischt waren.
»Beim Arsch von Thors Ziege, würde ich eher sagen«, schrie Steinthor durch den heulenden Sturm. »Alle hier rein! Rein in den Gang!«
Die Letzten kamen herauf und Gunnar Raudi und Ketil Krähe standen weit vorgebeugt da und hielten die Holzbrücke fest, außer sich vor Angst – genau wie wir alle –, dass sie einstürzen oder vom Sturm eingerissen werden
könnte und wir alle hier oben stranden würden. Der Donner rollte wild und der gelbe Himmel war in Aufruhr. Illugi Godi stand aufrecht da, den Stab in der Hand, beide Arme erhoben.
»Allvater, höre uns!«
»Bewegt eure fetten Ärsche!«, schrie Ketil, während die Männer einer nach dem anderen die Treppe heraufgestolpert kamen, über die Holzbrücke den Felsvorsprung erreichten und in der dunklen Öffnung verschwanden, wie ein Trupp aufgescheuchter Ameisen.
»Allvater, höre uns. Schicke deine Geflügelten, die Wunden des Himmels zu verbinden. Frage Thor, warum er mit seinem Kampfwagen über uns hinwegfährt. Hebe uns auf von diesem Schlachtfeld …«
Ein Mann, von einer Bö aus dem Gleichgewicht gebracht, fiel schreiend in die Schlucht und verschwand unter dem Wasserfall.
»Allvater …«
»Ach komm, Godi, es hört dir doch sowieso niemand zu«, rief Einar und spuckte in das braune Regenwasser. »Beeil dich lieber, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Und auch ich rannte, hinkend und den Schmerz ignorierend, in die dunkle Öffnung des Grabes.
Innen hatte jemand eine Fackel angezündet und wir drängten uns im Dämmerlicht des Felsenganges so dicht wie möglich aneinander, zitternd vor Kälte und Nässe in der plötzlichen Kühle des Berges. Ich hatte einen Geschmack im Mund wie nach Staub und alten Knochen.
»Die Fackel war eine gute Idee«, keuchte Einar, der als Letzter mit Ketil Krähe und Gunnar Raudi ankam, weil sie die Baumstämme der wackeligen Brücke noch auf diese
Seite gezogen hatten. Wir sahen uns an, im Dunkeln schienen alle Gesichter nur noch aus Schweiß und glänzenden Augen zu bestehen, als erneut dieser lange, tiefe Klagelaut vom Ende des Ganges, dort, wo das Licht war, zu uns drang.
Das Licht einer Fackel, die keiner von uns angezündet hatte.
Der Sturm tobte. Wir standen dicht an dicht in dem engen Gang, doch Einar drängte sich hindurch und spähte
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