Die einsamen Toten
wenn Sie das so beschäftigt? Wollen Sie mich bitten, die Nacht hier zu verbringen?«
»Nein.«
»Nein, das dachte ich mir. Das geht doch nicht, oder? Was würden die Leute sagen? Was würde Di sagen?«
Sie ging hinaus auf den Flur und öffnete die Wohnungstür. Cooper hielt ihr die Tür auf, während sie ihren Rucksack über ihre dünnen Schultern schwang. Er sah zu, wie sie auf den Bürgersteig trat. Sie schaute sich um und überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Sie versuchte, sich zu erinnern, wo die Geschäfte lagen und ob es in Reichweite einen Park oder eine leere Bank gab.
»Unten an der Flusspromenade gibt es jede Menge Bänke, aber dort unten ist es kälter als hier«, sagte Cooper. »Wasser gibt nachts schneller die Wärme ab.«
»Danke für den Tipp«, erwiderte sie.
»Der Marktplatz ist ruhig, aber erst nach drei Uhr morgens, wenn die Nachtschwärmer alle daheim sind. Und morgen ist Markttag, und da kommen die Marktleute schon um fünf Uhr früh, um die Stände aufzubauen. Das kann ein bisschen laut werden.«
»Herzlichen Dank.«
»Und wenn Sie auf meinem Sofa schlafen, müssen Sie sich mit den Katzen herumschlagen. Zwei schreckliche Plagegeister. Diane hasst Katzen, und ich vermute, Sie auch.«
Wieder warf sie einen Blick die Straße hinunter. Cooper konnte den Lärm der Autos auf der Meadow Road hören. Aus einem Autoradio drang gellend laute Rap-Musik. Ein Wagen beschleunigte an der Ampel mit quietschenden Reifen und hinterließ verbrannten Gummi auf dem Asphalt. Bald würde hier ein Streifenwagen seine Runden drehen, um jugendliche Raser zu entmutigen. Schallendes Gelächter ertönte, dazu das Scheppern einer Dose auf dem Pflaster.
»Ich bin nicht wie Diane«, sagte Angie. »Eigentlich bin ich das genaue Gegenteil von ihr. Ich dachte, das hätten Sie längst kapiert.«
Cooper betrachtete ihre schlanke Hand, mit der sie das Haar aus der Stirn strich, die schmalen Schultern, den drahtigen Körper und den herausfordernden Blick, als sie sich zu ihm umdrehte. »Nein, Sie sind nicht völlig anders als sie«, widersprach er.
»Vielleicht auch nicht. Aber eines sage ich Ihnen – ich habe nichts gegen Katzen. Ich mag sie sogar, in vernünftigen Grenzen.«
»Vernunft hat damit gar nichts zu tun.«
»Ich weiß.«
»Aber um acht Uhr morgen früh müssen Sie draußen sein.«
»Müssen Sie zur Arbeit?«
»Um acht Uhr draußen«, wiederholte Cooper.
»Okay, abgemacht. Das mit den Katzen und allem anderen.«
Er nahm ihr den Rucksack ab, als sie an ihm vorbei zurück ins Haus ging.
»Danke übrigens«, sagte sie.
»Schon gut.«
»Ist schon in Ordnung. Sie können sich das ›gern geschehen‹ verkneifen. Weil es nicht stimmt. Ich hatte nur plötzlich eine Vision, wie ich von irgendeinem Perversen mitten in der Nacht unten am Fluss auf einer Parkbank attackiert werde. Und dann
wäre vielleicht herausgekommen, dass der freundliche Ortspolizist Constable Cooper mir genau den Platz zum Schlafen empfohlen hat. Wäre nicht gut für Ihren Ruf, oder?«
»Ich hole Ihnen ein paar Decken«, sagte Cooper.
»Ja. Danke.«
Einen Moment lang erinnerte Cooper sich an das Gefühl, das er gehabt hatte, kurz bevor er Angie die Tür öffnete. Diese Vorahnung kommenden Unheils.
Aber er schob dieses Gefühl beiseite. Morgen um acht Uhr wäre sie aus seiner Wohnung verschwunden, dafür würde er schon sorgen. Und danach würde er Angie Fry niemals mehr wiedersehen. Auch dafür würde er sorgen.
20
Dienstag
D ie letzten drei Nächte hatte Diane Fry geträumt, sie hätte Emma Renshaws Leiche gefunden. Emma war seit zwei Jahren tot. Die blasse Haut umspannte wie fahles Pergamentpapier den Kopf, einer Gummimaske gleich, die man je nach Belieben formen und gestalten konnte. Für Fry verwandelte sich die Maske in das Gesicht eines sechzehn Jahre alten Mädchens, ein Gesicht, das ihr vertraut war wie das eigene und doch so fremd. Dieses Gesicht trieb ihr den Schweiß aus allen Poren, und sie wälzte sich in zerknitterten Laken im Bett hin und her.
Fry kannte diese Angst, die heimtückisch war. Man konnte noch so unbeschwert am Abend ins Bett gehen, und doch stellte man fest, wenn man morgens erwachte, dass die Angst aus den dunkelsten Ecken des Zimmers herabgesunken war und sich wie Spinnweben auf einen gelegt hatte.
Schon lang brachten eigentlich harmlose, Sicherheit suggerierende Gerüche, Klänge oder Bewegungen keine spezifischen Ängste oder Erinnerungen an das Ereignis mehr mit sich, das
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