Die einsamen Toten
sie traumatisiert hatte, sondern versetzten sie in einen allumfassenden Angstzustand, in ein vages, formloses Grauen vor etwas, das sie weder beschreiben noch benennen konnte. In allem sah sie nun etwas, das ihr Angst machte. Das Blut im Klatschmohn, den Moder auf dem Gras. Die Knochen unter der Haut des Mädchens.
An diesem Morgen wurde Fry endlich etwas bewusst, das sie schon seit langem hätte begreifen sollen. Auch sie lebte in einer Fantasiewelt. Wie die Renshaws. Es war ebenso unwahrscheinlich,
dass Angie Fry nach Hause kommen würde, wie es bei Emma Renshaw der Fall war. Schließlich war Angie seit fünfzehn Jahren verschwunden. Seit eineinhalb Jahrzehnten. Fry musste sich das immer wieder vergegenwärtigen, aber es bedeutete ihr im Grunde noch immer nichts. Für sie war seit damals kaum Zeit vergangen. Angie war noch immer der lebhafte Teenager, der zu irgendeiner Rave-Party aufbrach und lachend und mit einem flüchtigen Kuss für die jüngere Schwester in die Nacht hinaus entschwand, umweht von einem leichten Duft nach Parfüm und Drogen.
Fry wusste, dass sie nicht immun war gegen die Streiche, die einem das Gedächtnis spielte. Weshalb sollte ausgerechnet sie frei sein von dem Bedürfnis, sich an einen verzweifelten Irrglauben zu klammern? Stellte auch sie sich der Realität gegenüber blind und taub?
Angie hatte bereits zum Zeitpunkt ihres Verschwindens Heroin genommen, und das Leben eines Junkies war kurz und brutal. Fry hatte genügend abhängige Schwestern und Brüder anderer Leute gesehen und wusste, was aus ihnen geworden war. Fünfzehn Jahre waren eine lange Zeit im Leben eines Abhängigen. Wäre Angie noch am Leben, hätte sie sie mittlerweile gefunden.
Fry sah sich plötzlich einer Entscheidung gegenüber, die sich ihr aufdrängte wie das fahle Licht des Morgens, das durch den Spalt zwischen ihren Vorhängen hindurchschlüpfte und den gelben Schein der Straßenbeleuchtung draußen vor ihrem Fenster verdrängte. Sie musste akzeptieren, dass Angie tot war. Sonst gab es für sie kein anderes Ziel mehr außer den dunklen Straßen der Obsession.
Zum ersten Mal seit Monaten verbrachte Fry wieder einige Zeit mit ihren Übungen, leerte ihren Geist und tankte die Energie, die sie benötigte, um durch den Tag zu kommen. Sie stellte sich auf den Teppich in ihrem Schlafzimmer und führte die Bewegungen aus, bis sie weder die verblichene Tapete noch
den Fußboden mehr sah. Ihre Augen blickten nach innen. Endlich begann sie die ersten Anzeichen der körperlichen Anstrengung zu spüren, die ihr die Stärke zurückgab, die sie verloren hatte.
Es war ein Anfang, aber das genügte nicht. Sie musste jeden Gedanken an Angie aus ihrem Kopf verbannen. Sie musste zulassen, dass sich – quasi hinter ihrem Rücken – das Wissen um den Tod ihrer Schwester in ihr festsetzte. Und was vielleicht am wichtigsten war, sie brauchte dringend Unterstützung in ihrem Umgang mit den Renshaws, die Art von Rückendeckung, die ihr ein Gavin Murfin nicht geben konnte.
Die Katzen waren nachts auf Jagd gewesen. Eine von ihnen hatte ihre Beute in dem kleinen Garten hinter der Welbeck Street Nummer acht verspeist. Von dem Opfer war nicht viel übrig, nur der Magen, die Gedärme und ein paar innere Organe. Dunkelgrün und rot lagen sie, feucht glänzend, auf den Steinplatten. Und noch etwas war übrig – zwei winzige Füßchen, lang und blass und mit weißen Krallen. Ein Fuß war zu einer Art Faust geballt, während der andere sich auf dem Boden ausstreckte, als wäre er noch am Leben. Die Überreste einer Ratte.
Ben Cooper suchte die Umgebung nach einem schuppigen Schwanz ab, um eine Ahnung von der Größe des toten Nagetiers zubekommen. Normalerweise fraßen Katzen den Schwanz nicht. Den Kopf und die Vorderpfoten, ja, aber nicht die Hinterbeine, den Magen oder den Schwanz. Wenn er den fände, könnten ihm Länge und Umfang einen Hinweis darauf geben, ob Randy – oder Mrs Macavity – eine erwachsene Ratte oder ein Junges erwischt hatte. Gab es hier in der Nähe Rattennester? Wenn ja, dann würde er in der nächsten Zeit noch mehr Überreste aufsammeln können, jetzt, da die Katzen offensichtlich ihr Nest entdeckt hatten.
Aber auf den Steinplatten war nicht das geringste Anzeichen
auf einen Rattenschwanz zu finden. Cooper zuckte die Schultern. Wahrscheinlich hatte ihn ein Vogel für einen Wurm gehalten und war damit weggeflogen. Es gab Elstern hier in der Gegend, und die waren Aasfresser. Sie hatten es auch auf junge
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