Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
fragt Onkel Paolo.
Hinter mir wird gemurmelt: »Ich hab’s gleich gesagt, sie ist noch nicht so weit…« – »Zu viel verlangt von einem so jungen Mädchen…« – »Verdammt, Paolo, du hättest auf uns hören sollen…«
Mit einem Zischen bringt er alle zum Schweigen. »Pia, du weißt, was du zu tun hast. Das ist der einzige Weg. Zum Besten unserer Spezies, Pia. Alles andere zählt nicht. Der Zweck heiligt die Mittel.«
Das hat er schon einmal gesagt, als es um ein Kätzchen ging.
Mir ist übel, es rumort in meinem Magen und ich habe das Gefühl, als steckte mein Brustkorb in einem Schraubstock. Die Hände meiner Mutter legen sich fest auf meine Schultern.
»Sei stark für uns, Pia. Sei stark für mich. Für dich selbst«, drängt sie.
»Komm, Pia«, ermutigt mich auch Onkel Jakob. »Du kannst das. Wir haben es alle getan. Es ist notwendig.«
»Er hat recht«, bestätigt Onkel Paolo und Sergei murmelt zustimmend. Onkel Haruto schweigt und ich spüre, wie sich seine dunklen Augen in meinen Rücken bohren.
Der Tod – meine Bestimmung. Blut – mein Vermächtnis.
Von einem Pflaster über Amis Herzen läuft ein Kabel zu einem Computer, der ihren Herzschlag überwacht und ein hohes, monotones Piepen erzeugt. In ihre Ellbogenbeuge haben sie einen durchsichtigen Venenkatheter gelegt. Ein dünnes Rinnsal Blut tropft in einen Plastikbeutel, der am Haken eines fahrbaren Ständers baumelt. Ihre Hand hängt seitlich über den Rand des Tisches. Auf dem Boden sind drei leuchtend rote Blutflecke. Sie müssen beim Legen des Katheters heruntergetropft sein.
Amis Hand zuckt. Sehen die anderen es? Wacht sie auf?
Wie ist sie hierhergekommen? Haben sie sie gefangen?
Dann sehe ich es, genau in dem Augenblick, in dem ein mächtiger Donnerschlag die Fenster zum Klirren bringt.
Auf dem Resopaltisch beim Waschbecken liegt, vom Immortis-Team entsorgt und vergessen, ein kleiner steinerner Vogel an einem Band aus zusammengedrehten Pflanzenfasern.
Mein Vogelanhänger.
Automatisch geht meine Hand zu meinem Schlüsselbein. Nichts. Er muss letzte Nacht heruntergefallen sein, wahrscheinlich als Kapukiri die Legende erzählte… und Ami hat ihn gefunden.
Und kam nach Little Cam, um ihn mir zurückzubringen.
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken und setzen die einzelnen Puzzleteilchen zusammen: Eio hat mir von Ai’oanern erzählt, die früher das Dorf verließen und die den Wissenschaftlern glaubten, als diese ihnen versprachen, sie in die Stadt zu bringen, mit einem Flugzeug fliegen zu lassen. Ai’oaner, die ihrem Stamm den Rücken kehrten und nie mehr zurückkamen. Noch mehr Lügen, nur dass diese in den Tod führten.
Also muss heute Morgen in aller Frühe jemand Little Cam verlassen haben. Wer? Onkel Timothy? Er hat zunächst im Umkreis des Geländes gesucht, ist dann in den Dschungel gegangen… und nie bis nach Ai’oa gekommen. Ich schließe die Augen und sehe die Szene vor mir, wie sie sich abgespielt haben muss. Ami läuft rasch zwischen den Bäumen hindurch. In der Hand hält sie meine Kette und ihr Äffchen springt hinter ihr her. Onkel Timothy oder wer auch immer hält inne und erkennt, dass sein Job mit einem Mal sehr viel leichter geworden ist, weil hier ein Ai’oaner ganz allein im Dschungel unterwegs ist. Und dazu noch ein schutzloses Kind. Leichte Beute.
Das Entsetzen überwältigt mich. Es erfasst mich wie ein kalter, harscher Wind. Die nichts ahnende Ami, die nur im Sinn hatte, mir meinen Vogelanhänger zurückzubringen, wird von einem Monster geschnappt.
Für mich. Alles für mich. Alles, von Anfang bis Ende, eine Liste von Namen und Todesdaten, die zurückreichen bis ins Jahr 1902, zahllose Leben zerstört – alles für mich. Ich schwanke und Onkel Haruto ist schon halb auf dem Sprung, falls ich gleich ohnmächtig werde. Aber ich bleibe auf den Beinen. Die Wahrheit, die sich vor mir auftut, ist so schrecklich, so vernichtend, dass ich mir den Luxus einer Ohnmacht nicht gönnen kann.
Ich muss die Wahrheit aushalten.
Tante Harriets Worte von vor wenigen Minuten rasen durch mein Gehirn. Sie konnten doch nicht ständig Testpersonen von außerhalb holen. Das wäre doch irgendwann aufgefallen .
Es sei denn, die Testpersonen kämen gar nicht von der Welt außerhalb des Dschungels… weil die Wissenschaftler ein ganzes Dorf nichts ahnender Opfer gleich in der Nachbarschaft hatten: die Ai’oaner. Meine Ai’oaner. Tief in mir drin beginnt ein Feuer zu brennen.
Wie kann er es wagen, seine
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