Die einzige Wahrheit
Katie herum. »Wer?«
Samuel schluckte. »Ach, Katie. Muß ich jetzt auch noch seinen Namen aussprechen?«
Katie rieb sich mit den Händen über die Arme und sah wieder zur Straße.
»Er ist nach Philadelphia gefahren. Er kommt morgen wieder, zum Prozeß.«
»Bist du hier, um mir das zu sagen?«
»Nein«, erwiderte Samuel. »Ich bin hier, um mit dir einen Spaziergang zu machen.«
Sie senkte den Blick. »Ich glaube nicht, daß es im Moment angenehm in meiner Gesellschaft wäre.«
Er zuckte die Achseln. »Na, ich gehe jedenfalls«, sagte Samuel und ging die Stufen hinunter.
»Warte!« rief Katie und lief ihm nach.
Der Abend um sie war von Klängen erfüllt: Wind, der durch Bäume fegte, Vögel, die sich auf Ästen niederließen und sangen, schreiende Eulen. Tau legte sich silbrig auf Spinnennetze. Katie lief fast, um mit Samuels weit ausgreifenden Schritten mitzuhalten. »Wohin gehen wir?» fragte sie nach einigen Minuten, als sie die Apfelbäume erreicht hatten.
Er blieb stehen und sah sich um. »Ich habe keine Ahnung.«
Katie schmunzelte, und auch Samuel lächelte, und dann fingen beide an zu lachen. Samuel setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie, und Katie ließ sich neben ihm nieder, ihre Röcke raschelten auf dem Laub. Reife Äpfel, dunkelrot leuchtend wie Rubine, hingen tief über ihren Köpfen. Plötzlich mußte Samuel daran denken, daß Katie einmal bei einem Scheunenbau einen Apfel in einem einzigen langen Streifen geschält und die Schale dann nach altem Brauch rückwärts über die Schulter geworfen hatte, um zu sehen, wen sie einmal heiraten würde; alle ihre Freunde und Verwandten hatten gelacht, als die Schale in Form eines S auf dem Boden landete.
Mit einem Mal lag die Stille dicht und schwer auf Samuels Schultern. »Das wird eine gute Ernte«, sagte er und nahm den Hut ab. »Da gibt’s jede Menge Apfelmus zu kochen.«
»Meine Mutter wird alle Hände voll zu tun haben, soviel ist sicher.«
»Und du?« scherzte er. »Du wirst doch wohl dabei sein und uns helfen, oder?«
»Ich weiß nicht, wo ich sein werde.« Katie sah zu ihm hoch und räusperte sich. »Samuel, ich muß dir was sagen –«
Er legte seine Finger auf ihren Mund, ihren weichen Mund, und gab sich eine Sekunde lang der Illusion hin, daß es ein Kuß wäre. »Nicht reden.«
Katie nickte und blickte nach unten.
»Wir haben fast November. Mary Esch hat jede Menge Sellerie angepflanzt«, sagte Samuel.
Katie wurde schwer ums Herz. November – der Hochzeitsmonat – und Sellerie, womit die meisten Gerichte fürs Hochzeitsmahl zubereitet wurden. Das war zuviel für sie. Sie hatte gewußt, daß Mary und Samuel sich geküßt hatten, aber niemand hatte ihr erzählt, was in der Zwischenzeit passiert war. Es war schließlich Samuels Privatsache, und es war sein gutes Recht, sein Leben so zu gestalten, wie er wollte. Nächsten Monat Mary Esch zu heiraten.
»Sie heiratet Owen King, das steht fest«, fuhr Samuel fort.
Katie sah ihn erstaunt an. »Sie heiratet nicht dich?«
»Ich könnte mir vorstellen, daß die Frau, die ich heiraten möchte, davon nicht begeistert wäre.« Samuel wurde rot und schaute auf seine Füße. »Stimmt doch, oder?«
Einen Moment lang stellte Katie sich vor, daß ihr Leben wie das jeder anderen jungen Amischen verlaufen wäre, daß ihre Welt nicht aus den Fugen geraten wäre, daß Samuels süßes Angebot für sie nicht unannehmbar wäre. »Samuel«, sagte sie mit bebender Stimme, »ich kann dir nichts versprechen.«
Er schüttelte den Kopf, hob aber nicht den Blick. »Wenn nicht diesen November, dann nächsten November. Oder den November darauf.«
»Falls ich weggehe, dann für immer.«
»Das kann man nie wissen. Nimm zum Beispiel mich.« Samuel fuhr mit einem Finger an der Krempe seines Hutes entlang. »Ich war so sicher, daß ich dich für immer verlassen würde … und wie sich herausstellt, war ich die ganze Zeit nur auf dem Weg dahin zurück, wo ich angefangen habe.« Er drückte ihre Hand. »Denkst du drüber nach?«
»Ja«, sagte Katie. »Das werde ich.«
Es war nach Mitternacht, als Ellie sich lautlos hinauf ins Schlafzimmer schlich. Katie schlief auf der Seite, ein Streifen Mondlicht fiel über ihr Bett. Leise zog Ellie den Quilt von ihrem Bett und ging damit auf Zehenspitzen zur Tür.
»Was hast du vor?«
Sie drehte sich zu Katie um. »Auf der Couch schlafen.«
Katie setzte sich auf, die Decke fiel von ihrem schlichten, weißen Nachthemd. »Das mußt du nicht.«
»Ich
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