Die Eiserne Festung - 7
schmilzt. So kann man sie wieder einsammeln und im nächsten Winter erneut verwenden.«
Verständig nickte Coris. Mehrere Minuten lang standen die beiden Männer schweigend Seite an Seite und schauten zu, wie die Eislandschaft in unglaublichem Tempo an der Hornisse vorbeischoss. Dann ergriff Tannyr wieder das Wort.
»Ich möchte in aller Bescheidenheit anmerken, dass ich wirklich sehr gut darin bin, Geschwindigkeiten abzuschätzen, Mein Lord. Wir sind, laut meiner Schätzung, noch gute elf oder zwölf Stunden von Zion entfernt«, sagte er. »Normalerweise wären wir länger unterwegs. Aber das Wetter ist ruhig, und heute Nacht haben wir Vollmond. Also werden wir die Geschwindigkeit nicht so sehr drosseln müssen, wenn uns das Tageslicht ausgeht. Ich schlage dennoch vor, dass Sie trotz Ihrer offenkundigen Begeisterung über unsere Fahrt unter Deck zu gehen und sich etwas Heißes zu trinken zu holen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich würde es vorziehen, Sie nicht steifgefroren abliefern zu müssen.«
»Stellen Sie sich vor: Ich ziehe es auch vor, nicht als Eiszapfen mein Ziel zu erreichen«, erwiderte Coris. »Aber ich möchte wirklich nichts von alledem hier verpassen!«
Mit beiden Armen gestikulierte er und schloss damit das strahlende Sonnenlicht ein, das Deck, auf dem sie gerade standen, den Mast mit dem aufgeblähten Segel und die glitzernden Eissplitter, die von den Kufen aufstoben, während sie durch die klare Luft fuhren.
»Ich weiß. Und ich versuche ja auch gar nicht, Sie unter Deck zu schicken, Mein Lord. Ein Befehl sollte das keineswegs sein!« Nun lachte Tannyr lauthals. »Sie des Genusses zu berauben, den die Fahrt Ihnen bereitet, wäre geradezu verlogen von mir. Schließlich weiß ich ja, wie sehr ich selbst es genieße, hier an Deck zu stehen! Aber es wäre vielleicht gut, ein wenig Vorsicht walten zu lassen. Vergessen Sie nicht, Sie können das hier noch einen ganzen Tag lang genießen! Und wenn Sie das jetzt schon begeistert, warten Sie erst einmal ab, bis Sie den See im Mondschein sehen!«
.III.
Der Tempel, Stadt Zion, die Tempel-Lande
Lautlos wehten Schneeflocken gegen das bodentiefe Fenster; sie wirkten wie verlorene Seelen. Die strahlenden, geheimnisvollen Lichter, die stets die Außenmauern des Tempels erleuchteten, verwandelten die Schneeflocken in glitzernde Edelsteine, bis der Wind sie erfasst und sie ans Fenster trug. Hauwerd Wylsynn schaute zu, wie sie sich von prächtigen Juwelen in federleichte Geister verwandelten. Er verspürte eine Kälte, die weit über jene der eisigen Nacht hinausging, in der dort draußen vor dem Fenster die Schneeflocken tanzten. Die Kälte flüsterte tief im Mark seiner Knochen.
Er wandte sich von den Schneeflocken ab, die sich vor seinen Augen unablässig verwandelten. Stattdessen ließ er den Blick über die üppig ausgestattete Suite schweifen, die man seinem Bruder zugewiesen hatte. Jeder Vikar verfügte über persönliche Gemächer in dem gewaltigen, majestätischen Bau des Tempels. Verglichen mit den Suiten hoher Kirchendiener waren Samyl Wylsynns Gemächer nicht sonderlich groß. Gewiss, klein waren sie auch nicht, aber sie waren doch deutlich bescheidener, als Samyls hoher Rang gerechtfertigt hätte - wenn nicht sogar verlangt.
Sie waren auch deutlich schlichter und einfacher eingerichtet, ohne den Prunk, den andere Vikare als so selbstverständlich ansahen. Zhaspahr Clyntahn, der derzeitige Großinquisitor, war dafür ein Paradebeispiel. Es hielten sich Gerüchte (die höchstwahrscheinlich auch stimmten), dass alleine die Kunstsammlung in seinen Räumen mehr Wert besaß, als eine erfolgreiche Baronie in einem Jahr einbrachte. Dabei war noch nicht einmal berücksichtigt, dass Clyntahn eines der begehrten Eckgemächer verlangt (und erhalten) hatte. Die dortigen Fenster gestatteten ihm freien Ausblick nach Osten und nach Norden. Durch die eine Fensterfront konnte er die Dächer, Türme und Häuser der Stadt Zion betrachten, durch die andere die gewaltige Kuppel und die Kolonnade des Großen Tempels.
Hauwerd vermutete, dass Clyntahn argumentiert haben dürfte, derartige Gemächer seien nur angemessen für den Mann, in dessen Aufgabe es lag, die Mutter Kirche anvertrauten Seelen stets im Auge zu behalten. Mehr als einmal hatte Hauwerd miterlebt, wie Clyntahn voller Scheinheiligkeit und mit großem Eifer auf Autorität und Ansehen eines Großinquisitors verwiesen hatte. Wie wichtig es doch sei, allen Kindern von Mutter Kirche gegenüber zu betonen,
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