Die Eiserne See - Brook, M: Eiserne See
Gashebel nach vorn. »Ja, Sir.«
Die Kollegen im Hauptquartier waren alles feine Kerle. Ein paar verdrehten die Augen oder machten einen Spruch, aber nur um zu zeigen, wie lächerlich die Karikatur war. Die meisten waren aufgebracht darüber, dass ihre Beteiligung heruntergespielt wurde. Die Anerkennung, die eigentlich der Polizei hätte gelten müssen, hatte sich die Marine unter den Nagel gerissen, und sie verstanden es als einen Angriff auf einen ihrer Leute.
Bis zu diesem Tag hatte Mina nicht gewusst, dass sie als eine der ihren angesehen wurde.
Als sie also in Hales Büro bestellt wurde, stieg Mina die Treppe mit leichtem Herzen hinunter. Nicht einmal die Sorge in den Augen der Chefinspektorin konnte das angenehme Gefühl schmälern, das der Empfang im Hauptquartier ausgelöst hatte.
»Sie sind heute Morgen eine kleine Berühmtheit, Inspektor.«
»Unglückerweise, Sir.«
»Ja.« Hale seufzte. »Ich befinde mich selbst in einer misslichen Lage, und Sie müssen mir die Wahrheit sagen: Wie weit geht Ihr Verhältnis zu Anglesey?«
Mina hatte das erwartet. Und dem Himmel sei Dank, sie musste nicht lügen. »Von Verhältnis kann nicht die Rede sein, Sir. Sobald die Untersuchung abgeschlossen ist, haben wir nichts mehr miteinander zu tun.«
Hale nickte, doch sie war nicht so recht davon überzeugt, und ihre Besorgnis blieb. »Die Konstabler und Inspektoren stehen im Moment hinter Ihnen. Aber wenn sich das fortsetzt, wenn die Nachrichtenblätter und Flugblätter anfangen, auf ihnen herumzuhacken, nur weil Sie ebenfalls Polizistin sind, werden sie nicht mehr so nett sein. Es wird ihnen nicht gefallen, mit jemandem in Verbindung gebracht zu werden, der stets als Trottel dargestellt wird – natürlich unverdient.«
»Verstehe, Sir.« Das war im Grunde die Reaktion, die sie heute erwartet hatte.
»Sie sind meine Beste, doch wenn Sie sich entschließen sollten, eine … tiefere Beziehung zu dem Herzog einzugehen, müsste ich Sie entlassen.«
»Ich weiß, Sir. Danke. Doch ich gehe nicht davon aus, dass wir unsere Bekanntschaft fortsetzen.« Sie hielt inne und erinnerte sich, dass die Chefinspektorin nicht nur Nachrichtenblätter erwähnt hatte. »Flugblätter, Sir? Politische Flugblätter?«
»Ja.«
»Gab es eins?« Ihr sank das Herz, als Hale zögernd nickte. Mina hatte versprochen, sich nicht die Nachrichtenblätter anzuschauen. Doch ein politisches Flugblatt würde auf ihren Vater oder ihre Mutter abzielen. »Darf ich es sehen?«
»Inspektor … «
»Bitte, Sir.«
Mit sichtbarem Widerwillen schob Hale ein Blatt über den Tisch.
Mina starrte auf die Zeichnung. »Ich … nun. Die haben einen ganz falschen Maßstab. Wenn ich neben Trahaearns Statue stehen würde, würde ich ihm nicht einmal bis zum Knie reichen, ganz zu schweigen von meinem Mund auf seinem … «
»Ja.«
Übelkeit stieg in ihr hoch. Und sie kam nicht dagegen an. »Und um ein Protestschild so zu halten, müsste ich meine Hinterbacken ziemlich fest zusammenklemmen, glaube ich, oder das ›Frauen-Ehereform‹ wäre kaum zu lesen. Und ich bin nicht sicher, ob ich das könnte, wenn meine Röcke so weit … «
»Inspektor!« Hales Gesicht glühte beinahe purpurrot.
»Tut mir leid, Sir. Ich muss nur irgendwie … «
Lachen . Sie konnte nicht lachen. Wenn nur Andrew hier wäre – doch niemand wusste, wo er war. Sie kämpfte gegen das Brennen in ihren Augen an.
Hales Stimme wurde sanft. »Ja.«
Sie streckte die Hand nach dem Flugblatt aus, doch Mina musste es fortwährend anstarren, selbst wenn die Zeichnung von ihren Tränen nass wurde und verwischte. Es war das Hässlichste, was sie je gesehen hatte. Und es ging um sie .
»Mina.« Hale sprach ihren Namen leise und vorsichtig aus. »Ich habe noch nie danach gefragt, aber ich habe mir schon oft darüber Gedanken gemacht: Könnten Sie denn nirgendwohin anders gehen? Irgendwohin, wo Ihnen nicht ein Hüne folgen muss, damit Sie nicht zusammengeschlagen werden … oder Schlimmeres.«
Mina sog die Luft ein und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Wie schrecklich, hier vor Hale zu weinen. Aber besser, als zu Hause zu weinen. Sie rang um ihre Fassung.
»Vielleicht würde ich nicht zusammengeschlagen, doch selbst in der Neuen Welt würde man mich anstarren. Sie können gar nichts dagegen tun, genauso wie die Leute stets auf die Augen meiner Mutter oder die aus Manhattan City auf die Prothesen eines Dockarbeiters starren.« Sie begegnete Hales Blick. »Sind es Engländer,
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