Die Eiskrone
Stunner war eine andere Sache. War sie … konditioniert? Schon oft hatte man sie und ihren Geist präpariert, damit sie mit feindlichen Welten fertig werden konnte, aber niemals war sie sich einer solchen Manipulation bewußt geworden. Und nun war ihr, als arbeite ihr Geist langsamer als sonst, als schrecke er vor dem Gebrauch von Waffen zurück, die nicht von dieser Welt stammten.
Es kostete sie sogar Mühe, ihre Hand auf den Lauf des Stunners zu legen. Ihre Finger zuckten vor dem glatten, kühlen Metall zurück. Was war mit ihr geschehen? Wandte sich die Waffe, die sie doch vor den Gefahren einer fremden Welt schützen sollte, nun gegen sie selbst? Sie hatte Angst wie noch nie in ihrem Leben.
»Was ist?« fragte die Prinzessin.
»Nichts«, antwortete Roane ein wenig zu schnell. »Dieses Schaukeln … es macht mich ganz krank.«
»Ich bin schon oft mit der Kutsche gereist«, erklärte Ludorica. »Aber noch niemals so schrecklich schnell.«
Als sei dies ein Zauberwort gewesen, ließ das Rütteln nach, und bald kam das Gefährt zum Stehen. »Halte dich bereit«, mahnte die Prinzessin, die Roanes Lampe in der Hand hielt und auf die Tür richtete. Roane legte den Finger an den Auslöseknopf des Stunners, obwohl es sie Mühe kostete.
Nichts geschah. Die Prinzessin vermutete, es würden nur die Zugtiere ausgewechselt. Wenig später ging die wilde Fahrt weiter. Nach einiger Zeit erklärte die Prinzessin: »Wir kehren nach Reveny zurück.«
»Woher weißt du das?«
»Wir sind in einem Hügelland. Hast du nicht bemerkt, wie sich die Kutsche nach rückwärts neigt? Das einzige Hügelland in der Nähe von Gastonhow ist das Grenzland nach Reveny. Es gibt nun zwei Möglichkeiten für uns. Entweder sehen wir uns dann dem König gegenüber – oder Reddick.«
»Du nimmst an, daß es Reddick sein wird, nicht wahr?«
»Man muß Imbert einen üblen Streich gespielt haben. Es ist wohl am besten, wenn wir uns auf das Schlimmste einrichten. Wie töricht war ich doch!« Die Prinzessin schien sehr bestürzt zu sein. »Fancher und der Wahrsager – sie haben sicher ihre Spitzel in Imberts Haus gehabt. Er hat es ja selbst vermutet. Aber er wußte sicher nicht, wie weit ihre Pläne reichten. Nun haben wir nur noch Nelis, auf den wir uns verlassen können. Alles hängt aber davon ab, wohin man uns bringt.«
Roane bewunderte den Mut und die Klugheit der Prinzessin. Aber beide reichten in der gegenwärtigen Lage nicht aus. Sie mußte selbst denken, um ihre eigenen Hilfsmittel richtig einzusetzen. Sie hatte den Stunner, und auf Clio gab es keine Gegenwaffe. Damit konnten sie einen Durchbruch wagen, sobald man sie aus der Kutsche herausließe. Wenn sie sich dann zum Lager durchschlagen konnten … Hoffentlich bestand es noch! Oder hatte sich Onkel Offlas schon vom Beiboot abholen lassen?
Dann ging es deutlich abwärts. Ludorica schien richtig vermutet zu haben. Später verlief die Straße wesentlich flacher, und allmählich sickerte auch dünnes Licht durch die Vorhänge.
»Es ist Tag. Wenn wir am Grenzhaus vorbeikommen …« Die Prinzessin schüttelte den Kopf. »Nein, sie könnten eine solche Fahrt nicht wagen, wenn sie nicht sicher wären, daß niemand in die Kutsche schaut. Es muß aber eine Hauptstraße sein, denn mit diesem Gefährt konnten sie keinen schmalen Weg benützen. Aber dann haben sie einen ausgezeichneten Plan …«
Ganz plötzlich schwieg die Prinzessin und starrte auf einen dünnen Riß in der Vorderwand der Kutsche. Roane folgte ihrem Blick. Sie erkannte einen winzigen Rauchfaden, und gleichzeitig bemerkte sie einen ganz neuen Geruch in der moderig riechenden Kutsche.
»Das ist Upusrauch!« rief sie. »Man will uns bewußtlos machen!« Ludorica sprang sofort auf, warf sich gegen den Riß und drückte die Falten ihres Mantels darauf. Aber es nützte nicht viel, denn dünner Rauch quoll nun auch durch andere Ritzen herein.
Roane nahm mit immer schwerfälliger werdenden Fingern ihren Gürtel ab und versteckte ihn in den Falten ihres Mantels. Dann sah sie noch, wie die Prinzessin an der Kutschenwand nach unten glitt, ehe sie selbst in tiefe Bewußtlosigkeit versank.
Es war heiß, sehr heiß. Roane bewegte sich, legte eine Hand auf ihr Gesicht, als wolle sie sich vor einer grellen Sonne schützen. Nein, auf Sand lag sie nicht. Es war irgendein Stoff. Sie öffnete die Augen.
Sie sah dunkles Holz, und ein Streifen Sonnenschein fiel auf ihr Gesicht. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie hatte entsetzlichen Durst.
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