Die Eisläuferin
getan, aber außerordentliche Lagen erforderten außerordentliche Maßnahmen. Und vielleicht brauchte sie jetzt einfach nur seine Nähe, zumindest den Beweis, dass das |210| hier nicht nur eine einzige ferngesteuerte Versuchsanordnung war. Sie ließ sich verbinden, aber man sagte ihr, es sei besetzt. Sie ließ die Leitung trotzdem zu sich hereinstellen, vielleicht gab es einen Anrufbeantworter. »Wollen-Sie-verbunden-werden,-sobald-Ihr-Gesprächspartner-das-Gespräch-beendet-hat,-so-antworten-Sie-mit-Ja.« Diese Stimme war ihr gänzlich unbekannt, aber immerhin wusste sie genau, was sie brauchte in diesem Moment: einen Gesprächspartner. »Ich-habe-Sie-nicht-verstanden.« Herrje, man konnte doch nicht einfach laut Ja sagen, wie albern. »Versuchen-Sie-es-später-noch-einmal.« Sie legte auf.
Ihrem Mann wurde zur selben Zeit eine merkwürdige Frage gestellt, denn der MAV hatte bereits weitergedacht: »Hören Sie, haben Sie die Möglichkeit, bis auf Weiteres in Teilzeit zu gehen? Pflegefall in der Familie oder Ähnliches, Sie verstehen mich?«
Er konnte es nicht fassen: »Was glauben Sie denn, was ich die letzten Wochen gemacht habe? Wer holt sie denn zurück ins Leben jeden Morgen? Der Sandmann? David Copperfield?«
»Nun beruhigen Sie sich doch. Ich will nur sagen, Sie werden bis auf Weiteres versuchen müssen, diesen Dimitrij – nun, wie soll ich sagen – auch therapeutisch ein wenig zu ersetzen. Er scheint ja schon entscheidende Vorarbeit geleistet zu haben. Wir können uns da gerne abstimmen.«
Er konnte nichts mehr sagen, war fassungslos, wie weit wollte man es denn noch treiben?
»Das mache ich nicht mit.«
»Nun, Sie können auch jeden erstklassigen Neuropsychologen Ihrer Wahl haben.«
Er stutzte über diese letzte Äußerung des MAV. War die Sache plötzlich nicht mehr top secret? »Was soll das heißen?«
|211| Der MAV holte tief Luft, wie jemand, der sich seine Worte schon sehr lange vorher zurechtgelegt hatte und sie nun doch nicht richtig herausbrachte: »Nun, vielleicht wird Ihre Frau in Zukunft etwas öfter zu Hause sein.«
»Das können Sie nicht tun!«
»Hören Sie, wir sind heute zu der Überzeugung gelangt, dass der Zeitpunkt für einen Rücktritt günstig wäre. Wir sind jetzt so weit und können etwaige Nachfolger ins Spiel bringen. Es tut mir leid, dass es etwas gedauert hat, aber ich bin mir sicher, dass es Ihrer Frau nicht geschadet hat.«
Nun war es heraus. Natürlich, wenn man nur lange genug suchte, konnte man an den perfidesten Dingen gute Seiten finden. Und wenn es nur ein paar Leute gegeben hätte, die sich schon früher auch nur annähernd so verhalten hätten, als könnten sie am nächsten Tag die Regierung übernehmen, hätte man diesen ganzen Eiertanz nicht nötig gehabt. Aber so einfach war das jetzt nicht mehr. Und seine Gefühle standen ihm gerade gehörig im Wege: »Das ist nicht Ihr Ernst. Sie macht doch Fortschritte!«
»Ich verstehe Sie ja, glauben Sie mir, aber über kurz oder lang wäre das einfach nicht mehr verantwortungsvoll gewesen, für keine der Parteien, Ihre Frau eingeschlossen.« Und was dann kam, klang immerhin ehrlich: »Popularität hin oder her, wir drehen hier mittlerweile am Rad. Sie wissen doch, wie sie sich verändert hat. So geht das nicht auf Dauer.«
Man mochte ihm glauben, doch da war noch ein Steinchen, das so ganz und gar nicht ins Bild passte: »Aber Sie können sie doch nicht aus Krankheitsgründen zurücktreten lassen, so fit, wie sie wirkt. Da wird doch nachgeforscht. Amnesie, wie sieht das denn aus? Dann kommt alles heraus.«
Der MAV wiederum konnte so viel Unbeweglichkeit im |212| Geiste nicht verstehen: »Ja, verstehen Sie denn nicht? Das mit der roten Ampel leugnen wir entschieden, und wir werden es morgen und übermorgen wieder tun, wenn noch mehr per Handy aufgenommene Großaufnahmen des Polizeibeamten und Ihrer am Sozius lehnenden Gattin die Titelseiten der Zeitungen schmücken.«
»Ja, aber das finden die Leute gut! Deswegen tritt man doch nicht zurück!«
Der MAV schien in Fahrt zu kommen: »Das Leugnen, guter Mann, das Leugnen werden sie nicht gut finden. Und dann gibt es da auch die Moskauflüge, die die Opposition gerade aufdeckt. Zur Not bleibt uns noch die Politikverdrossenheit.«
»Bei meiner Frau?«
»Ich weiß, das ist alles höchst unerfreulich, gibt uns aber zumindest eine Argumentation an die Hand für ihren Rücktritt jenseits ihrer Krankheit.«
»Wie viel Bedenkzeit habe ich?«
»Zwanzig Stunden. Wir
Weitere Kostenlose Bücher