Die Eismumie
Dr. Mathis hinter ihrem Rücken einen Nebenanschluss stehlen. Die Labordirektorin wollte mit Grove und Zorn nichts zu tun haben und machte sich rar, was Okuda nur recht war.
Doch je länger die ganze Aktion dauerte, desto mehr machte die Anspannung Okuda zu schaffen. Der Rausch des Heroins war längst verflogen, seine Hände begannen wieder zu zittern und ihm war übel. Essen konnte er nichts. Die unzähligen Fragen der Ermittler beanspruchten seine Konzentration über Gebühr. Während er die Ergebnisse der Mitochondrientests las, schweifte seine Aufmerksamkeit immer wieder ab. Eine Frage beschäftigte ihn ganz besonders: Was hatten Keanus Tätowierungen zu bedeuten?
Auch Grove hatte sich bereits mehrfach bei Okuda nach der Bedeutung erkundigt. Dabei hatte er allerdings erwähnt, dass sie es durchaus mit einem Nachahmungstäter zu tun haben könnten. Warum suchte er dann nach einer Erklärung für die Tätowierungen? Dachte Grove, der Täter habe die Bedeutung der Tätowierungen entschlüsselt und daraufhin seine Mordserie begonnen? Vor einigen Jahren hatte Okuda in Harvard mit einem Graduiertenstipendium an dem berühmt-berüchtigten Archimedes-Projekt mitgearbeitet, bei dem eine internationale Gruppe von Studenten und Gelehrten sich der Aufgabe verschrieben hatte, tote Sprachen und Symbole in einer brauchbaren Datenbank zu sammeln. Okuda hatte sich auf Symbologie und Piktographie spezialisiert, besonders auf Abbildungen präsumerischen Ursprungs. Doch die seltsamen Tätowierungen des Eismannes ergaben in Okudas Augen keinen Sinn. Und viel schlimmer noch: Sie verfolgten ihn sogar bis in seinen Drogenrausch hinein.
Diese zittrigen Linien erinnerten Okuda an winzige Ballons. Sie mussten für den Eismann etwas Einschneidendes und Unerbittliches bedeutet haben, vielleicht hatten sie sogar sein Schicksal bestimmt. Diese Erkenntnis brachte ihn freilich einer schlüssigen Erklärung keinen Deut näher. Umso mehr verwunderte ihn Groves beharrliches Interesse an den Tätowierungen.
Am späten Nachmittag war Okuda völlig erschöpft. Er bat die Ermittler, ihre Nachforschungen am nächsten Morgen fortzusetzen, er müsse sich noch um Laboruntersuchungen kümmern und habe außerdem private Pläne für den Abend. Dankenswerterweise erbarmte sich Special Agent Grove und stellte die Arbeit für diesen Abend ein.
Okuda mochte ihn. Zorn, dieser andere Kerl, war ein regelrechter Fiesling, aber Grove schien ein rücksichtsvoller und kultivierter Mensch zu sein.
Nachdem die Profiler gegangen waren, eilte Okuda zur Herrentoilette in der unteren Etage des Südwestflügels und zog eine Dosis Heroin durch die Nase, die gereicht hätte, um ein Rhinozeros zu betäuben. Um achtzehn Uhr war das Labor so gut wie verlassen, und Okuda stand der Sinn nach Entspannung.
Er verspürte allerdings nicht das geringste Bedürfnis, in seine erbärmliche Einzimmerwohnung zurückzukehren, die sich im heruntergekommenen Studentenviertel der Hausman-Flats befand. Er rief seine Freundin Wendy Hecht an, eine Doktorandin in Physischer Anthropologie, und lud sie ein, ihm im Labor Gesellschaft zu leisten. Sie kam öfters her, einfach nur, um abzuhängen oder vielleicht auch einen Film anzusehen. In dem Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter gab es einen Plasmabildschirm und einen Stapel DVDs, und Okuda wusste, wie man das Magnetschloss manipulieren konnte, damit sie den forschenden Blicken der patrouillierenden Hausmeister nicht ausgeliefert waren.
Keine Dreiviertelstunde später erschien Wendy wie verabredet an der Laderampe. Sie trug eine blaue Jeans und ein enges Flanellhemd, das ihre üppigen Brüste betonte. In der Hand hielt sie eine braune Papiertüte, in der sich eine Flasche Quervo Gold Tequila und Zitronen befanden. Okuda gab ihr einen flüchtigen Kuss und führte sie über die Hintertreppe in den Sicherheitsbereich, womit er gleich mehrere Sicherheitsbestimmungen auf einen Streich missachtete.
Wie ungezogene Kinder hasteten sie den Hauptkorridor hinunter. Wendy flüsterte atemlos: «Bekommt eine bescheidene Doktorandin vielleicht auch einmal die Möglichkeit, einen Blick auf das Kronjuwel des Labors zu werfen?»
Okuda tat zunächst so, als habe er ihre Bitte überhört. Als Wendy ihre Frage jedoch wiederholte, sagte er mit einem schelmischen Lächeln: «Meine Liebe, ich kann dir gerne mein Kronjuwel zeigen. Du brauchst es nur zu sagen.»
«Sehr witzig – komm schon, Mikey!»
Okuda seufzte. «Na gut, du darfst einen Blick riskieren, aber
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