Die Elben - 03 - Der Krieg der Elben
Tod des Augenlosen Sehers noch umgab.
Einmal habe ich dich vor dem Einfluss der Finsternis bewahren können, mein Bruder. Aber jetzt steht es außerhalb meiner Macht!
Der Kommentator in seinem Kopf gab darauf eine gewohnt spöttische Antwort: Welch eine passende Ausrede, o Weiser aller Weisen!
Einer Nadelspitze gleich stach das Horn von Eldrana in den grau gewordenen Himmel, während die Sonne ihre letzten Strahlen durch das tiefer gelegene Wolkenmeer sandte, in dem sie versank und dabei ihr rötliches Licht einer blutenden Wunde gleich vergoss.
Wie fern wirkten von so weit oben die Probleme der Diesseitigen. Kühl und klar war die Luft, die Andir in seine Lungen sog, auch wenn sie kaum noch Sauerstoff mit sich führte. Er konnte seine Atmung der dünnen Luft anpassen.
Eine magische Formel, die er gelegentlich vor sich hinmurmelte, unterstützte ihn dabei. Was hatte er geglaubt, so hoch oben zu finden? Da war nichts; er war allein mit all dem, was seine Seele und seinen Geist ausmachte. Allein mit seinen Erinnerungen und Gedanken, auf dass er das Chaos seiner Seele neu zu ordnen vermochte.
Die eigentliche Gipfelregion des Horns von Eldrana bestand aus einer spitz zulaufenden, einem Dorn ähnlichen Felsnadel, die an ihrem Sockel gerade so dick war, dass zehn erwachsene Elbenmänner sie umfassen konnten, während ihre Spitze einem scharfen Splitter glich. Diese Felsennadel war von einem schmalen Plateau umgeben, kaum zwanzig Schritt breit, dessen Ebene deutlich geneigt war. Fast hätte man glauben können, dass dieser Ort gar nicht natürlichen Ursprungs, sondern eine uralte in den Fels geschlagene Kultstätte wäre.
Andir, der auf dem Plateau stand und den Blick hatte schweifen lassen, drehte sich wieder zu der Felsnadel um, schaute nach oben – und erschauderte. Ein Fleck aus undurchdringlicher Finsternis hatte sich im mittleren Bereich der Felsnadel gebildet. Im ersten Moment waren seine Konturen unklar, doch dann veränderten sie sich und glichen den Umrissen eines kahlköpfigen Elbenschädels. Die spitzen Ohren waren deutlich zu erkennen, und als sich Andir zur Seite wandte, auch die Konturen eines feingeschnittenen Elbengesichts.
Überrascht?
Ein Gefühl der Bedrohung lähmte Andir. Dieses dunkle Etwas war es also, das ihn schon eine ganze Weile verfolgte –
zuerst nur in seinen Gedanken und schließlich auch völlig real.
»Weiche von mir, Finsternis!«, rief Andir aus.
Der Magier hatte keine Waffe bei sich – aber es war ohnehin unvorstellbar lange her, dass er sich eines so primitiven Tötungswerkzeugs wie eines Schwerts oder einer Armbrust bedient hatte. Solche Dinge brauchte er nicht. Seine Waffe war die Macht des klaren Geistes. Die stärkste Kraft, die einem elbischen Magier überhaupt zur Verfügung stehen konnte.
Der dunkle Fleck aus purer Finsternis breitete sich aus. Die Schwärze floss wie ein zähflüssiger Sirup die unebene Oberfläche der Felsnadel entlang. Einzelne kleine Flüsse teilten sich, mäanderten in mehreren Windungen dahin und vereinigten sich wieder. Ein Teil dieser Flüsse, die wie mit schwarzem Blut gefüllte Adern wirkten, flossen entgegen den Naturgesetzen nach oben in Richtung der Spitze der Felsennadel. Der Fleck dehnte sich auf diese Weise weiter aus und formte schließlich neue Umrisse: Der riesige Schatten eines Elben in einem langen, kuttenartigen Gewand!
Andir schluckte. Wie der überdimensionierte Schattenriss seiner selbst wirkte diese dunkle Gestalt.
Du kannst mir nicht entfliehen. Deine Flucht ist zu Ende.
Hier und jetzt fällt die Entscheidung…
Andir war unfähig, auch nur einen einzigen Ton hervorzubringen. Die Gestalt streckte eine Hand aus, blitzschnell. Der Arm und die Hand wuchsen und umfassten Andirs Kopf, so wie es Magolas im Tempel der Sechs Türme widerfahren war.
Der Magier versuchte, alle Kräfte zu mobilisieren, die in ihm waren. Aber er wurde plötzlich von einer erschreckenden Schwäche befallen. Wie gelähmt war er, sowohl geistig als auch körperlich. Er war zu keiner Bewegung, nicht einmal zu einem klaren Gedankenbefehl und einem herkömmlichen Abwehrzauber fähig. Die Finsternis der dunklen Hand umschloss ihn, und von einem Augenblick zum anderen konnte Andir nichts mehr sehen oder hören. Er fühlte nur eine Form von Kälte, die nichts zu tun hatte mit der auf dem Gipfel des Horns von Eldrana herrschenden Temperatur; diese Kälte drang bis in das tiefste Innere seiner Seele.
In den Schriften der Überlieferung aus der Alten Zeit
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