Die Elite
Und sie hat meinen Bruder auf dem Marktplatz auspeitschen lassen. Alles Gerede der Welt wird nichts daran ändern, was wir sind. Die Herrscher unseres Landes haben uns in eine Ecke gedrängt, aus der wir aus eigener Kraft nicht mehr herauskommen, und sie haben es nicht eilig, uns daraus zu befreien. Sie wollen es einfach nicht kapieren, Mer.«
Verärgert stand ich auf.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Zurück in den Damensalon«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen.
Aspen folgte mir. »Wollen wir uns ernsthaft über so ein blödes Projekt streiten?«
»Nein. Wir streiten uns, weil du es auch nicht kapierst. Ich bin jetzt eine Drei. Und du eine Zwei. Warum nutzt du nicht die Chance, die sich dir bietet, statt verbittert zu sein, in welche Verhältnisse wir hineingeboren wurden? Du hast doch neulich selbst gesagt, dass dir dein Leben als Soldat ganz neue Perspektiven eröffnet und Hoffnung gibt. Du kannst das Leben deiner Familie verändern. Vielleicht kannst du sogar das Leben vieler Menschen verändern. Doch du interessierst dich nur dafür, alte Rechnungen zu begleichen. Das wird niemanden weiterbringen.«
Aspen schwieg. Der alte Schmerz saß immer noch tief und der Zwiespalt, in dem er sich befand, machte ihm zu schaffen. Ich ging wortlos davon und versuchte mich nicht über ihn zu ärgern, nur weil er das, was ihn bewegte, mit Leidenschaft vertrat. War das nicht eine bewundernswerte Eigenschaft? Sie brachte mich schließlich dazu, genauer über das Kastensystem und die Aussichtslosigkeit, es abzuschaffen, nachzudenken. Und zwar so intensiv, dass mich die ganze Situation allmählich wütend machte. Hatte Aspen am Ende mit seiner Einschätzung recht? Nichts würde daran etwas ändern. Warum sollte man sich dann überhaupt damit beschäftigen?
Ich spielte Geige. Ich nahm ein Bad. Ich probierte es mit einem Nickerchen. Ich saß lange Zeit still auf meinem Balkon. Doch nichts davon half. Noch immer fiel mir nichts Geeignetes für unser Wohlfahrtsprojekt ein. Stundenlang wälzte ich mich im Bett herum, weil ich nicht einschlafen konnte. Ständig kehrten meine Gedanken zu Aspens zornigen Worten und zu seinem fortwährenden Hadern mit seinem Schicksal zurück, das ihn immer wieder einzuholen schien. Ich dachte auch an Maxon und sein Ultimatum, seine Forderung, dass ich mich endlich entscheiden sollte. Und dann fragte ich mich, ob das alles überhaupt noch eine Rolle spielte. Denn wenn ich am Freitag nichts zu präsentieren hatte, würde ich ganz sicher nach Hause geschickt werden.
Ich seufzte und schlug meine Bettdecke zurück. Ich hatte absichtlich nicht noch einmal in Gregory Illeás Tagebuch gelesen. Intuitiv befürchtete ich, dass es nur noch mehr Fragen aufwerfen würde. Doch vielleicht würde mir auch irgendetwas darin die Richtung weisen, worüber ich im
Bericht aus dem Capitol
sprechen konnte. Und selbst wenn es mir nichts brachte, musste ich doch wissen, was mit seiner Tochter passiert war. Ich war mir ziemlich sicher, dass ihr Name Katherine war, deshalb blätterte ich das Buch durch, bis ich ein Foto entdeckte, auf dem Katherine neben einem Mann stand, der viel älter als sie zu sein schien. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie sah aus, als ob sie weinte.
Heute hat Katherine endlich Emil de Monpezat von Swendway geheiratet. Sie hat auf dem ganzen Weg zur Kirche geweint, bis ich ihr klarmachte, dass sie es später bereuen würde, wenn sie sich während der Trauung nicht zusammenriss. Ihre Mutter ist nicht glücklich darüber, und auch Spencer scheint traurig zu sein, weil er mittlerweile gemerkt hat, wie sehr seiner Schwester diese Verbindung widerstrebt. Aber Spencer ist klug. Sobald er die vielen Möglichkeiten erkennt, die ich für ihn geschaffen habe, wird er sich schnell fügen.
Damon ist eine wahre Stütze. Ich wünschte, ich könnte das, was ihn antreibt, auch auf den Rest der Bevölkerung übertragen. Eins muss man den Jüngeren lassen. Es ist nämlich Spencers und Damons Generation, die mir am meisten dabei geholfen hat, dahin zu kommen, wo ich jetzt stehe. Mit ihrem unbeirrbaren Enthusiasmus sind sie ein sehr viel attraktiveres Vorbild für andere als die schwächlichen Alten, die darauf beharren, dass wir den falschen Weg eingeschlagen haben. Ich frage mich, ob es eine Möglichkeit gibt, sie für immer zum Schweigen zu bringen, ohne dabei meinen Namen zu beschmutzen.
So oder so, die Krönung ist für morgen angesetzt. Nun, da Swendway unser Land als mächtigen
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