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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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keinen Sinn, solange wir nicht diejenigen mit einbeziehen, die hinübergewechselt sind, auf die andere Seite. Wir stehen doch ständig im Verkehr mit ihnen, oder nicht? Durch Spezialisten wie Eventyr und die Kontrollen, die sie von drüben bedienen. Doch alle zusammen bilden wir eine einzige große Subkultur, eine spiritistische Gemeinschaft, wenn Sie so wollen."
    "Ich will nicht", sagt Mexico trocken, "aber ja, ich glaube auch, daß sich das einer mal ansehen sollte."
    "Es gibt Völker- diese Hereros zum Beispiel -, die jeden Tag ihre Angelegenheiten mit ihren Ahnen besprechen. Die Toten sind für sie so gegenwärtig wie die Lebenden. Wie sollen wir sie je verstehen, wenn wir nicht beide Seiten der Mauer mit dem gleichen wissenschaftlichen Rüstzeug angehen?"
    Und doch ist es für Eventyr nicht der problemlose soziale Austausch, den sich Treacle wünscht. Es gibt auf seiner Seite kein Erinnern, keine persönliche Gedächtnisspur. Er muß alles in den Aufzeichnungen anderer nachlesen oder von Platten abhören, und das bedeutet, daß er den anderen vertrauen muß. Ein höllisches soziales Setup! Er ist darauf angewiesen, den wesentlichen Teil seines Lebens auf der Glaubwürdigkeit von Menschen aufzubauen, die ihm als Mittler zwischen seinem angenommenen und seinem wahren Selbst dienen. Eventyr weiß, wie nahe er dem Sachsa auf der anderen Seite ist, aber er kann sich an nichts erinnern. Christlich erzogen, Westeuropäer von tief eingepflanztem Glauben an die Vorherrschaft des registrierenden Bewußtseins -alles andere war unwichtig oder unnormal -, ist er nun unsicher und tief verwirrt...
    Die Niederschriften verraten ebensoviel über Peter Sachsa wie über die Seelen, zu denen er Verbindungen herstellt. Sie berichten, oft detailliert, von seiner quälenden Liebe zu Leni Pökler, die mit einem jungen Chemiker verheiratet und in der KPD aktiv war, ein Pendelverkehr zwischen Sachsas Sitzungen und dem 12. Bezirk. Jede Nacht, die sie kam, hätte er weinen mögen beim Anblick ihrer Gefangenschaft. In ihren verschmierten Augen stand klarer Haß auf ein Leben, das sie dennoch nicht aufzugeben vermochte: ein Mann, den sie nicht liebte, ein Kind, vor dem es ihr nie gelang, sich nicht schuldig zu fühlen, weil sie es nicht genug zu lieben glaubte. Ehemann Franz hatte irgendeine Verbindung, zu vage für Sachsa, um sie zu verfolgen, zum Heereswaffenamt, und so gab es auch ideologische Barrieren, die zu überwinden keiner von beiden die Kraft aufbrachte. Leni beteiligte sich an Straßenaktionen, Franz verzog sich zum Raketenflugplatz nach Reinickendorf, kaum daß er hastig seinen Tee hinuntergeschüttet hatte, während sich das morgengraue Zimmer schon mit Frauen füllte, die nur darauf zu warten schienen, daß er endlich ginge: sie brachten Bündel von Flugblättern, Rucksäcke voller Bücher und politischer Zeitungen, mit denen sie, zur Stunde des Sonnenaufgangs, durch die heruntergekommenen Hinterhöfe der Hauptstadt Berlin sickerten.

 [1.19] EINE ARMEE VON LIEBENDEN KANN GESCHLAGEN WERDEN

    Sie sind hungrig und frösteln. Das Studentenheim ist ungeheizt, düster, dazu Millionen von Schaben. Es riecht nach Kohl, nach dem alten zweiten Kaiserreich, nach Großmutters Kohl und fettigem Rauch, der im Lauf der Jahre zu einer Art Detente mit der Luft gekommen zu sein scheint, die ihn ersticken will, Gerüche nach langer Krankheit und nach endgültiger Übergabe, die tief in den bröckelnden Mauern stecken. Eine der Wände ist gelb gemasert vom Rostwasser geplatzter Leitungen irgendwo oben. Leni sitzt mit vier oder fünf anderen auf dem Boden, reicht ein abgebissenes Stück Schwarzbrot weiter. In einem klammen Nest aus Die Faust Hoch, alte Nummern, die niemand mehr lesen wird, schläft ihre Tochter Ilse, atmet so leicht, daß man es kaum bemerkt. Ihre Wimpern werfen riesige Schatten über die Wölbungen ihrer Backenknochen.
    Diesmal sind sie für immer weg. Das Zimmer ist gut für einen weiteren Tag, vielleicht sogar zwei... was danach kommen soll, weiß Leni nicht. Sie hat einen Koffer für sie beide gepackt. Weiß er überhaupt, was es für eine Frau, die unter dem Krebs geboren ist, für eine Mutter, bedeutet, ihr ganzes Heim in einem Koffer zu haben? Sie hat ein paar Mark bei sich, Franz hat seine Spielzeugraketen zum Mond. Es ist wirklich aus.
    In ihren Träumen ging sie immer gleich zu Peter Sachsa. Wenn er sie nicht bei sich aufnahm, half er ihr doch, eine Beschäftigung zu finden. Jetzt aber, da sie wirklich Schluß gemacht

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