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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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und zu verbreiten : hätte es womöglich weniger Verbrechen im Namen Jesu und mehr Barmherzigkeit im Namen von Judas Ischariot gegeben? Tyrone Slothrop will es scheinen, als gäbe es einen Weg zurück - vielleicht hatte dieser Anarchist, damals in Zürich, recht, vielleicht sind für eine kurze Zeit alle Zäune niedergerissen, ist eine Straße so gut wie die andere, der ganze Raum der Zone freigeräumt, depolarisiert, und vielleicht gibt's irgendwo in ihrer Trümmerwüste ein einzelnes System von Koordinaten" von dem man ausgehen könnte, ohne Erwählte, ohne Übergan-gene, auch ohne Nationalitäten, die alles wieder versauen würden ... Solcher Art sind die Gedankenperspektiven, die sich in Slothrops Kopf eröffnen, während er sich hinter Ludwig herschleppt. Treibt er, oder wird er geführt? Die einzige Kontrolle auf der Szene ist jetzt dieser verdammte Lemming. Wenn's ihn überhaupt gibt. Der Knabe zeigt Slothrop Fotos, die er in seiner Geldbörse bei sich trägt: Ursula, mit blitzenden, scheuen Äuglein unter einem Haufen Kohlblätter hervorlugend... Ursula in einem Käfig unter einer riesigen Schleife mit Hakenkreuzmedaille, erster Preis bei einer Haustierschau der Hitlerjugend ... Ursula und die Hauskatze, einander über ein Stück gefliesten Bodens hinweg fixierend ... Ursula, wie sie mit schläfrigem Blick und baumelnden Vorderpfoten aus einer Tasche von Ludwigs Pimpfenuniform heraushängt. Irgendein Teil von ihr ist immer verwischt, zu schnell für den Verschluß. Obwohl er, schon als sie noch ein Baby war, gewußt hatte, was sie einmal durchzustehen haben würden, hat Ludwig sie immer geliebt. Wahrscheinlich glaubt er, mit Liebe verhindern zu können, daß es passiert.
    Slothrop wird es nicht erfahren. Er verliert den fetten jungen Irren in einem Dorf nahe der See. Mädchen mit langen Röcken und geblümten Kopftüchern sammeln Pilze in den Wäldern, rote Eichhörnchen huschen durch die Buchen. Straßen schlängeln sich weiter in die Stadt, zu steil in der Verkürzung - hier ist ein Weitwinkel-, ein Kleinstadtraum. Straßenlaternen büscheln von den Masten, die Pflastersteine sind schwer und vom hellen Sand verfärbt. Brauereipferde dösen in der Sonne und schlagen mit den Schwänzen.
    Durch eine Gasse nahe der Michaeliskirche schwankt ein kleines Mädchen unter einem Berg von Schmuggelpelzen, der nur ihre braunen Beine freigibt. Ludwig stößt einen Schrei aus und deutet auf den Mantel, der zuoberst liegt. Etwas Kleines und Graues ist in seinen Kragen eingearbeitet. Künstliche gelbe Augen glühen krankhaft. Ludwig rennt los, schreit Ursula, Ursula, grapscht nach dem Mantel. Das kleine Mädchen überschüttet ihn mit einem Schwall von Flüchen. "Du hast meinen Lemming umgebracht!"
    "Laß los, du Trottel." Ein Zerrkampf inmitten der verwischten Sonnensprenkel und Schatten der Gasse. "Das ist kein Lemming, das ist ein Graufuchs." Ludwig unterbricht sein Gebrüll lange genug, um nachzusehen. "Sie hat recht", unterstreicht Slothrop.
    "'tschuldige", schnüffelt Ludwig. "Ich bin ein bißchen durcheinander. " "Tcha, könnt ihr mir wenigstens helfen, das Zeug hier bis zur Kirche zu tragen?"
    "Klar."
    Sie nehmen jeder einen Arm voll Pelze und folgen ihr durch die holprigen Gassen der Stadt, hinein in einen Seiteneingang und ein paar Treppen hinunter bis in die Krypta der Michaeliskirche. Dort im Lampenschein, über einen Sterno-Kocher und einen siedenden Topf gebeugt, ist das erste Gesicht, das Slothrop sieht, das von Major Duane Marvy.
    [3.26] Slothrop, das Schwarzkommando, Imipolex G
    YAAAGGGGHHHH - Slothrop stemmt seine Ladung von Pelzmänteln hoch, bereit, damit zu werfen und zu fliehen, doch der Major ist eitel Lächeln. "Hallo, Kamerad! Du kommst genau zurecht für Duane Marvys weltberühmtes Atom-Chili! Weshalb holsde dir kein' Chorstuhl und hockst dich hin? Yaah-ha-ha-ha! Unsre kleine, wie heißdse doch gleich -" er gluckst und greift dem Mädchen zwischen die Beine, als es seinen Packen Pelze auf den riesigen Haufen schmeißt, der den Raum fast völlig ausfüllt -"is manchmal 'n bißchen indiskret. Ich hoffe, Sie glauben nich, daß wir irgendwas Illegales machen, ich mein, in Ihrer Zone und überhaupt."
    "Keineswegs, Major", er versucht, sich einen russischen Akzent zu verpassen, der ganz wie Bela Lugosi rauskommt. Marvy zieht einen Ausweis hervor, der größtenteils von Hand geschrieben ist, mit einem amtlichen Stempel hier und da. Slothrop blinzelt auf das kyrillische Geschreibsel am unteren Rand und

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