Die Endzeit Chroniken - Exodus (German Edition)
ließen sich die seltenen Köstlichkeiten schmecken. Der dicke Koch erwies sich als Multitalent, als er plötzlich eine alte Geige hervorholte und wie ein Meister darauf zu spielen begann. Einige Leute unterstützten ihn mit Mundharmonikas und Schellenringen, während Butch sich mit seiner Gitarre dazugesellte. Instrumente wie die filigrane Geige kannte Cassidy überhaupt nicht. Trotzdem wippte sie unbewusst mit ihren Fußspitzen im Takt, und als Kim sie auch noch zum Tanz aufforderte, gab es kein Halten mehr. Kaum jemand aus Silver Valley kannte genaue Schrittfolgen, man bewegte sich einfach zur Musik und ließ sich von der Stimmung tragen. Stan und Mary kamen sich näher und schlenderten eng umschlungen über die Tanzfläche zwischen den Schulbänken. Angel schonte ihr Bein und begnügte sich mit Zusehen. Victor hingegen ließ sich von der Atmosphäre mitreißen. Kim übergab ihm Cassidy als Tanzpartnerin und zwang sogar den dicken Johnny auf das staubige Wüstenparkett. Für diesen besonderen Abend hatte Monroe schon Tage zuvor Bier brauen lassen und die Kinder erfreuten sich an Limonade aus Brausepulver. Butch und Victor überraschten die Feiernden außerdem mit einem hochprozentigen, selbstgebrannten Getreideschnaps.
Als die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand und das Licht der Lagerfeuer und Fackeln das Dorf erhellte, erreichte das Fest seinen Höhepunkt. Selbst die tierischen Untermieter wurden nicht vergessen. Scott lag zu Angels Füßen und kaute genüsslich auf einem saftigen Steak herum. Frank mischte sich unter die Menge und nutzte die ausgelassene Stimmung, um zwanglose Gespräche mit seinen Leuten zu führen. Bewaffnet mit einem Krug Bier zog er von einer Feuerstelle zur nächsten. Er wirkte wie ein ganz normaler Bürger; kein Außenstehender hätte in diesem heiter feiernden Mann einen General vermutet. Er ließ es sich nicht nehmen, Angel zum Tanzen aufzufordern, die sich mit einem augenrollenden Lächeln dem Befehl fügte. Im Zusammenspiel der Musik und einigen Fässern Gerstensaft wichen die Hemmungen der Menschen und die Tanzfläche wurde zum Spielplatz der Gefühle. Gelegentlich verschwanden Pärchen in den Wohnbaracken und tauchten eine halbe Stunde später zufrieden lächelnd wieder auf. Viele soziale Tabus hatten vor zwei Jahrzehnten ihre Bedeutung eingebüßt. In einer Welt, in der jeder Tag der letzte sein konnte, genossen die wenigen Überlebenden lieber den Augenblick und verschwendeten ihre Zeit nicht damit, andere aus Neid oder aufgrund unterschiedlicher Ansichten zu verurteilen. Auch religiöse Barrieren verloren nach dem Kollaps rapide an Wert. Schwangerschaften und Geburten stellten dagegen ein ausnahmslos freudiges, gesellschaftliches Ereignis dar. Durch die komplexe Enklavenstruktur im Sinne einer solidarischen Großfamilie musste sich keine Mutter um ihre Zukunft sorgen oder gar Ausgrenzung befürchten, sondern konnte sich auf die Hilfe aller Einwohner verlassen. Erst nachdem die Menschheit auf eine übersichtliche Zahl reduziert worden war, begriffen die Leute endlich, dass Kinder in die Welt zu setzen jederzeit ein Segen war.
***
Ein wenig später am Abend kniete Cassidy allein an einem der Lagerfeuer und putzte ihr Gewehr. Die Dorfbewohner feierten nach wie vor, doch die Gedanken an ihren Bruder und die bevorstehende Mission holten die junge Rekrutin ein. Nachdenklich wischte sie mit einem grauen Baumwolltuch immer wieder über dieselbe Stelle. Waffen gehörten in jeder Siedlung der Wastelands zu alltäglichen Werkzeugen, aber normalerweise in primitiverer Ausführung. Schwere Sturmgewehre wie ihres suchten eventuelle Plünderer in den Zivilisationsruinen meist vergeblich. Anfangs erschien ihr die ungewohnte Waffe viel zu groß. Insgeheim hätte sie ein etwas handlicheres Modell bevorzugt, so wie das leichte amerikanische Gewehr von Kim in Wüstentarnfarbe, mit einer schicken Zieloptik und Laserlichtmodul, das zu Zeiten der Zivilisation gern von polizeilichen Spezialeinheiten in engen Häuserkämpfen eingesetzt worden war, doch Scott ließ ihr keine Wahl. Nahm sie ein anderes Gewehr in die Hand, schnappte er sich die Waffe seines Vorbesitzers und warf sie ihr vor die Füße.
Auf einmal tauchte ein schwarzhaariger Junge vor Cassidy auf. Völlig in Gedanken versunken bemerkte sie ihn erst, als sich ihr Hund ausgelassen von ihm streicheln ließ. Er war ein gutmütiger Zeitgenosse, hielt aber Abstand von den meisten Einwohnern und reagierte allergisch auf
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