Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
sich nicht.
I m Laufe der Mittagsstunden gelang es den mit der Leichensache »Bützflehter Moor« befassten Mitarbeitern der Mordkommission in Stade, ihrem auf einem Feld bei Drochtersen entdeckten Toten einen Namen zu geben.
Zbigniew Nikodem Stanczaks Vita, soweit aktenkundig, sowie seine Vermisstenmeldung hatten ihren digitalen Weg aus einem Danziger Polizeikommissariat in die Einsatzzentrale ebenso gefunden wie die Ergebnisse einer DNA-Analyse, gewonnen anhand von Zahnbürste und Haarkamm aus der Zweitwohnung des Verstorbenen im Gottschalkring in Hamburg-Harburg. Nachfragen dort ergaben, dass der Pole am Vorabend seines Todes, gegen neunzehn Uhr, beim Verlassen seiner Harburger Mietwohnung von Etagennachbarn, einem syrischen Ehepaar, gesehen und begrüßt worden war. Ein Telefonat mit dem ortskundigen Polizeimeister in Himmelpforten ergab, dass die Strecke zwischen Gottschalkring und Bützflehter Moor in rund vierzig Minuten abzufahren sei, kein Problem bei Nacht, selbst mit Leiche im Gepäckraum.
Ein weiteres Telefongespräch führte der Erste Polizeihaupt kommissar der Kripo Stade mit der Ehefrau des Toten in Danzig. In gutem Deutsch antwortete sie, ihr Mann sei sehr wohl Inhaber der Im- und Exportfirma »Prototex oHG« gewesen, Geschäftsunterlagen wären jederzeit bei ihr einzusehen; von andersartigen Tätigkeiten ihres Zbigniew in Deutschland wisse sie nicht.
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I n Hamburg-Altona war es der Polizei bislang nicht gelungen, nahe oder ferne Verwandte des mutmaßlich bei einer Gasexplosion tödlich verunglückten Dirk Raschke aufzuspüren. Die Eltern seit fast zwanzig Jahren nicht mehr am Leben, ein unter Vormundschaft des Verstorbenen stehender Bruder zuletzt auf dem Einwohnermeldeamt Lübeck-Kücknitz geführt, im August 2005 dort ohne Angaben einer Neumeldung abgemeldet – das brachte weitergehende Ermittlungen der Kriminalhauptstelle zum Stocken.
Bei der Suche zweier Polizeihauptmeister nach einem Familienbuch in der Wohnung des Verstorbenen in der Bellealliancestraße 27 wurden sichergestellt: 134 Euro Bargeld, ein Sparbuch der Dresdner Bank, ein Bundespersonalausweis sowie eine Geburtsurkunde. Zahnbürste und Haarkamm wurden zum Zwecke eines DNA-Analysen-Abgleichs beschlagnahmt, anschließend die Wohnungstüre verschlossen und versiegelt.
Einem fähigen, zielstrebigen Beamten wäre es mit einiger Wahrscheinlichkeit gelungen, im Zuge einer intensiven Befragung des Umfeldes der »Perma Corro GmbH« sowie einer Auswertung der in Dirk Raschkes Wohnung lagernden Papiernotizen und Geschäftsbriefe nicht nur auf den Namen Stanczak, sondern auch auf jene von Jan Holzapfel und Knut Giovanni Myrbäck zu stoßen. Einem fähigen, zielstrebigen Beamten wäre es des Weiteren gelungen, nach ihrem Verbleib zu forschen und dabei unweigerlich eine Verknüpfung zu ei ner Brandleiche zu ziehen, die südlich der Hansestadt aufgefunden wurde.
Dass jedoch kein Mensch die Verbindung zwischen einem toten Polen in Drochtersen und einem toten Deutschen in Hamburg-Altona herzustellen vermochte, war nicht nur dem Zufall zuzuschreiben, sondern vielmehr gewissen Defiziten in der kriminologischen Ausbildung geschuldet; der Tatsache, dass heutzutage eine Vielzahl von Vernehmungen kriminalistische Qualitätsansprüche nicht erfüllt und Ermittlungsansätzen nicht nachgegangen wird, nur weil der Weg zu einem Tatort oder Zeugenbefragungen zu tatrelevanten Zeiten zwar in das Ermittlungskalkül passen, nicht aber zu den persönlichen Vorstellungen des Mitarbeiters vom pünktlichen Dienstschluss.
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Im dritten Stockwerk eines Bürohauses in der Merianstraße in Köln-Chorweiler saß derweil Alexander B. ratlos vor einem Bildschirm und marterte sich bei dem Gedanken, einen groben Dienstfehler begangen zu haben. Er hatte geschlafen, als er hätte wachen sollen.
Wann genau ihm dieses Missgeschick unterlaufen war, wusste er nicht zu sagen. Vor ein paar Wochen, vor Monaten? In den scheußlichen Tagen unmittelbar nach seiner Scheidung? Er, Alex, war eine Schaltstelle, doch er hatte nicht geschaltet. Und das wurde vielleicht einem Käsehändler verziehen, seinetwegen auch einem Politiker, nicht aber einem Sachgebietsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Never! No fucking way!
Fast auf den Tag genau vor sechs Monaten war Alexander B. von seinem Vorgesetzten angesprochen worden. Ob er, auf dem Wege der Diensthilfe gewissermaßen, in einer kniffligen Angelegenheit mit seiner Expertise, seiner langjährigen Erfahrung, den Kollegen
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