Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
knallend wieder zu. Anna saß regungslos da. Es war wieder stockdunkel. Nirgendwo kam Licht herein, trotzdem musste sie herausfinden, was dort lag. Langsam näherte sie sich auf allen vieren und streckte tastend die Finger aus. Der Boden war so kalt, dass ihre Hände taub wurden, und an der rauen Oberfläche scheuerte sie sich die Knie wund. Schließlich berührte sie etwas, das sich wie Stoff anfühlte. Als sie mit den Fingerspitzen auf Haut traf, zuckte sie zurück. Ein Mensch. Die Augen waren geschlossen. Zunächst nahm sie keine Atmung wahr, aber der Körper war warm. Vorsichtig fuhr sie am Hals entlang und ertastete einen schwachen Puls. Ohne nachzudenken, hielt sie der Frau die Nase zu, hob den Kopf an, neigte ihn leicht nach hinten und bedeckte den Mund mit ihren Lippen. Sie war sich sicher, dass es eine Frau war. Das merkte sie am Geruch und an den Haaren. Als sie stoßweise in den Mund der Frau atmete, meinte sie einen Hauch ihres eigenen Geruchs wahrzunehmen.
Anna wusste nicht, wie lange sie versucht hatte, die Frau wiederzubeleben. Hin und wieder drückte sie mit der Hand auf die Brust der Frau. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie es richtig machte. Sie kannte die Methode nur aus den Krankenhausserien im Fernsehen und hoffte, dass sie die Wirklichkeit und keine erfundene Version einer Herzlungenmassage darstellten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit begann die Frau zu husten. Als Würgelaute ertönten, drehte Anna die Frau auf die Seite und strich ihr über den Rücken. Das Husten ließ nach, und die Frau rang pfeifend nach Luft.
»Wo bin ich?«, keuchte sie.
Anna strich ihr beruhigend über das Haar. An der gepressten Stimme war kaum zu erkennen, um wen es sich handelte, aber Anna konnte es sich denken.
»Bist du das, Ebba? Es ist zu dunkel hier, um etwas zu sehen.«
»Anna? Ich dachte, ich wäre blind geworden.«
»Du bist nicht blind. Es ist dunkel, und ich weiß nicht, wo wir sind.«
Ebba wollte etwas sagen, aber ein Hustenanfall, der ihren ganzen Körper erschütterte, hinderte sie daran. Anna strich ihr weiter über den Kopf, bis Ebba anscheinend Anstalten machte, sich hinzusetzen. Anna half ihr auf, und nach einer Weile hörte sie auf zu husten.
»Ich weiß auch nicht, wo wir sind«, sagte Ebba.
»Wie sind wir hierhergekommen?«
Zuerst antwortete Ebba nicht, dann sagte sie leise: »Mårten.«
»Mårten?« Anna sah wieder ihre nackten Körper vor sich. Übelkeit stieg in ihr auf, und sie hätte sich am liebsten übergeben.
»Er …« Ebba hustete wieder. »Er hat versucht, mich zu erwürgen.«
»Wie bitte?«, fragte Anna ungläubig, aber Ebbas Worte setzten tief in ihrem Innern etwas in Bewegung. Wie ein Tier, das wahrnahm, wenn ein anderes Tier in der Herde krank war, hatte sie dunkel geahnt, dass mit Mårten etwas nicht stimmte. Doch das hatte seine Anziehungskraft nur noch verstärkt. Die Gefahr, die von ihm ausging, kannte sie gut. Sie hatte gestern Lucas in Mårten gesehen.
Eine neue Welle von Übelkeit überkam sie, und die Kälte, die vom Boden ausging, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Das Zittern wurde immer schlimmer.
»Mein Gott, ist das kalt hier. Wo kann er uns nur eingesperrt haben?«, fragte Ebba.
»Er muss uns doch wieder rauslassen.« Anna hörte selbst die Unsicherheit in ihrer Stimme.
»Ich habe ihn nicht wiedererkannt. Er war ein ganz anderer Mensch. Das habe ich an seinen Augen gesehen. Er …« Plötzlich brach Ebba in Tränen aus. »Er hat gesagt, ich hätte Vincent ermordet. Unseren Sohn.«
Anna legte Ebba wortlos die Arme um den Hals und strich ihr über den Kopf.
»Was ist passiert?«, fragte sie nach einer Weile.
Ebba weinte so heftig, dass sie zunächst gar nicht antworten konnte, doch allmählich beruhigte sie sich.
»Es war Anfang Dezember. Wir hatten unglaublich viel zu tun. Mårten hatte drei Bauprojekte gleichzeitig, und ich musste abends auch lange arbeiten. Vincent muss das gespürt haben, denn er wurde ungeheuer trotzig und provozierte uns die ganze Zeit. Wir waren vollkommen am Ende.« Sie schluchzte wieder. Anna hörte, dass sie sich die Nase am Pullover abwischte. »An dem Morgen, als es passierte, mussten wir beide zur Arbeit. Eigentlich sollte Mårten Vincent in den Kindergarten bringen, aber dann riefen sie von der einen Baustelle an und sagten, er müsse sofort kommen. Dort herrschte dauernd irgendeine Krise. Mårten fragte, ob ich mich um Vincent kümmern würde, damit er gleich losfahren könne, aber ich hatte einen
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