Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Raum verübt wurde.«
Er sah Gösta an, der kraftlos nickte.
»Du hast recht. Wir müssen eine Zeitreise machen.«
Es war vielleicht etwas sonderbar, in einem Hotelzimmer so viele Fotos aufzustellen, aber noch hatte niemand gewagt, ihn darauf hinzuweisen. Das war der Vorteil an einer Suite. Wenn man viel Geld besaß, gingen alle davon aus, dass man ein wenig exzentrisch war. Außerdem konnte er wegen seines Aussehens machen, was er wollte, ohne sich darum zu scheren, was andere davon hielten.
Die Fotos waren ihm wichtig. Dass er sie immer dabeihatte, gehörte zu den wenigen Dingen, gegen die Ia nichts ausrichten konnte. Ansonsten hatte sie ihn in der Gewalt, das war ihm klar. Aber was er einst dargestellt und zustande gebracht hatte, das konnte sie ihm nicht nehmen.
Leon fuhr mit dem Rollstuhl an die Kommode, auf der die Fotos standen. Er schloss die Augen und erlaubte sich für einen Moment, in Gedanken an die Orte zurückzukehren, die auf den Bildern zu sehen waren. Er stellte sich den brennenden Wüstenwind auf seinen Wangen vor und die extreme Kälte, die seine Finger und Zehen malträtierte. Er hatte den Schmerz geliebt. No pain, no gain , war stets sein Motto gewesen. Die Ironie des Schicksals wollte nun, dass er jeden Tag und jede Sekunde mit Schmerzen leben musste. Ohne dafür belohnt zu werden.
Das Gesicht, das ihn aus den Bilderrahmen anlächelte, war schön oder eher elegant. Es schön zu nennen hätte bedeutet, dass es feminin wirkte, und das wäre vollkommen irreführend gewesen. Das Gesicht strahlte Männlichkeit und Kraft aus. Eine verwegene Waghalsigkeit und die Sehnsucht nach dem Adrenalinstoß.
Er griff mit der rechten Hand, die im Gegensatz zur linken unverletzt war, nach seinem Lieblingsfoto. Es war auf dem Gipfel des Mount Everest entstanden. Der Aufstieg war hart gewesen, und mehrere Expeditionsteilnehmer hatten während verschiedener Etappen aufgegeben. Einige hatten schon vor Beginn der Tour die Flinte ins Korn geworfen. Solche Schwäche war ihm unbegreiflich. Ein Rückzieher kam für ihn nie in Frage. Viele hatten den Kopf über seinen Versuch geschüttelt, den Gipfel ohne Sauerstoff zu erreichen. Das wäre unmöglich, meinten die Besserwisser. Sogar der Expeditionsleiter hatte ihn angefleht, nicht ohne Sauerstoff aufzusteigen, aber Leon wusste, dass es ging. Reinhold Messner und Peter Habeler hatten es 1978 bewiesen. Schon damals hielt man es für ausgeschlossen, nicht einmal den nepalesischen Scherpas war es gelungen. Die beiden Männer schafften es trotzdem, und das bedeutete, dass er es auch tun würde. Und tatsächlich erreichte er den Gipfel des Mount Everest beim ersten Versuch – ohne Sauerstoff. Auf dem Bild hielt er die schwedische Flagge in der Hand und strahlte übers ganze Gesicht. Hinter ihm flatterten die farbenfrohen Gebetsfähnchen. In dem Moment befand er sich auf dem höchsten Punkt der Erde. Er sah stark aus. Glücklich.
Vorsichtig stellte Leon das Bild zurück und nahm das nächste in die Hand. Paris – Dakar. In der Motorradklasse natürlich. Er ärgerte sich immer noch, dass er nicht gewonnen hatte. Stattdessen hatte er sich mit einer Platzierung unter den ersten Zehn begnügen müssen. Eigentlich wusste er, dass das eine großartige Leistung war, aber für ihn zählte immer nur der erste Platz. Ganz oben auf dem Siegertreppchen wollte er stehen, egal, worum es ging. Er strich mit dem Daumen über die Glasscheibe und unterdrückte ein Lächeln. Wenn er lächelte, spannte die eine Gesichtshälfte, und dieses Gefühl hasste er.
Ia hatte solche Angst um ihn gehabt. Einer der Teilnehmer war schon zu Beginn des Rennens verunglückt, und sie hatte Leon angefleht, abzubrechen. Der Unfall steigerte jedoch nur seine Motivation. Die Gefahr stachelte ihn an, das Wissen, dass er jeden Augenblick ums Leben kommen konnte, war sein Antrieb. Die schönen Seiten des Lebens genoss er dafür umso mehr. Der Champagner schmeckte besser, die Frauen erschienen ihm schöner, und die seidene Bettwäsche schmiegte sich noch sanfter an seine Haut. Sein Reichtum war noch viel mehr wert, wenn er ihn ständig aufs Spiel setzte. Ia dagegen hatte Angst, alles zu verlieren. Sie hasste es, wenn er dem Tod laut ins Gesicht lachte und in den Casinos von Monaco, Saint-Tropez und Cannes sein ganzes Geld auf eine Karte setzte. Sie konnte nicht nachvollziehen, was so aufregend daran war, an einem Abend alles zu verspielen, um es sich am nächsten wieder zurückzuholen. Sie konnte dann nachts
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