Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
die keine Vorwürfe provozierten. Mit der Zeit wurden die Sätze länger, und sie fanden immer mehr sichere Themen. Valö kam zur Sprache. Mårten schlug als Erster vor, dorthin zu ziehen. Auch er betrachtete es als Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen, was sie an ein anderes Leben erinnerte. Ein Leben, das nicht perfekt, aber glücklich gewesen war.
Als sie mit geschlossenen Augen dasaß und ihre Stirn an den Badezimmerkacheln kühlte, bezweifelte sie zum ersten Mal, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Das Haus, in dem Vincent sein ganzes kurzes Leben verbracht hatte, war verkauft. Sie hatten dort Windeln gewechselt und waren nachts mit dem Kleinen auf dem Arm auf und ab gewandert, er hatte dort krabbeln, laufen und sprechen gelernt. Nun gehörte es ihnen nicht mehr, und sie fragte sich, ob dieser Schritt nicht eine Flucht gewesen war.
Jetzt waren sie hier. In einem Haus, wo sie vielleicht nicht einmal sicher waren und wo im Esszimmerfußboden ein Loch klaffte, weil vermutlich ihre Familie dort ausgelöscht worden war. Das berührte sie mehr, als sie zugeben wollte. In ihrer Kindheit hatte sie sich selten Gedanken über ihre Herkunft gemacht, doch nun konnte sie die Vergangenheit nicht länger von sich fernhalten. Als sie den großen, seltsamen Fleck unter den Dielen sah, wurde ihr innerhalb eines Augenblicks klar, dass es sich nicht um etwas Mysteriöses handelte. Dies war die Realität. Ihre Mutter und ihr Vater waren vermutlich genau an dieser Stelle ums Leben gekommen, und in gewisser Weise erschien ihr das wirklicher als die Tatsache, dass jemand versucht hatte, sie und Mårten umzubringen. Sie wusste zwar nicht, wie sie mit dieser Wirklichkeit umgehen und mitten darin leben sollte, aber sie konnte ja sonst nirgendwohin.
»Ebba?«
Sie hörte an seiner Stimme, dass er bald aufstehen und nach ihr suchen würde, wenn sie keine Antwort gab. Deshalb hob sie den Kopf und rief in Richtung Tür: »Ich komme.«
Während sie sich sorgfältig die Zähne putzte, betrachtete sie sich im Spiegel. An diesem Abend wich sie nicht aus. Sie sah der Frau mit dem toten Blick in die Augen, dieser Mutter ohne Kind. Dann spuckte sie die Zahnpasta ins Waschbecken und trocknete sich den Mund ab.
»Das hat aber gedauert.« Mårten hielt ein Buch in den Händen, war allerdings noch auf derselben Seite wie gestern, stellte sie fest.
Ohne etwas zu erwidern, schlüpfte sie unter die Decke. Mårten legte das Buch auf den Nachttisch und machte das Licht aus. Die Raffrollos, die sie bei ihrem Einzug montiert hatten, verdunkelten den Raum vollständig, obwohl es draußen nie richtig dunkel wurde.
Ebba lag regungslos da und starrte an die Decke. Sie spürte, dass Mårten tastend die Hand nach ihr ausstreckte, tat jedoch, als würde sie es nicht bemerken. Diesmal zog er sie nicht zurück, sondern strich damit über ihren Oberschenkel, glitt unter ihr T-Shirt und streichelte ihren Bauch. Übelkeit stieg in ihr auf, als sich seine Hand zielstrebig weiter nach oben bewegte und ihre Brüste streifte. Die Brüste, aus denen Vincent Milch getrunken hatte, die Brustwarzen, an denen sein kleiner Mund so gierig gesaugt hatte.
Galle füllte ihren Mund. Sie sprang aus dem Bett, raste ins Badezimmer und schaffte es gerade noch, den Toilettendeckel hochzuklappen, bevor sich ihr Magen entleerte. Als sie fertig war, sank sie entkräftet auf dem Fußboden in sich zusammen. Im Schlafzimmer hörte sie Mårten weinen.
Fjällbacka 1925
D agmar betrachtete die Zeitung auf der Erde. Laura zog an ihrem Ärmel und schrie immer wieder »Mama, Mama«, aber Dagmar beachtete sie gar nicht. Sie hatte diese fordernde, quengelnde Stimme und das Wort, das schon so oft wiederholt worden war, dass sie fast wahnsinnig wurde, einfach satt. Langsam beugte sie sich hinunter und hob die Zeitung auf. Es war später Nachmittag, und ihr Blick hatte sich bereits ein wenig getrübt, aber es bestand kein Zweifel. Da stand es schwarz auf weiß: »Der deutsche Fliegerheld Göring kehrt nach Schweden zurück.«
»Mama, Mama!« Laura zerrte immer kräftiger an ihr. Dagmar schlug so heftig nach ihr, dass das Mädchen von der Bank fiel und zu weinen begann.
»Sei still!«, zischte Dagmar. Sie verabscheute dieses falsche Geflenne. Dem Kind fehlte es an nichts. Es hatte ein Dach über dem Kopf, etwas anzuziehen und brauchte nicht zu hungern, auch wenn es manchmal nicht viel zu beißen gab.
Dagmar wandte sich wieder dem Artikel zu und entzifferte ihn mühsam. Ihr Herz
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