Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
war außerdem Jude.« Gösta machte eine Pause. »Wir wissen ja, wo John heute steht.«
»Damals war John nicht so«, sagte Leon. »Seinem Vater gefiel es zwar nicht, dass John mit einem jüdischen Jungen zur Schule ging, aber die Ironie des Schicksals wollte es, dass die beiden sich am besten verstanden.«
Patrik nickte. Er überlegte eine Weile, was John veranlasst haben mochte, seine Meinung zu ändern. Hatten die Ansichten seines Vaters mit zunehmendem Alter doch auf ihn abgefärbt? Oder gab es eine andere Erklärung?
»Und die anderen? Wie würden Sie die beschreiben?«
Leon schien nachzudenken. Dann richtete er sich ein wenig auf und rief ins Wohnzimmer: »Ia? Bist du da? Könntest du uns einen Kaffee aufsetzen?« Er sank zurück in seinen Rollstuhl.
»Percy ist adelig bis in die Fingerspitzen. Er war verwöhnt und arrogant, aber im Grunde kein schlechter Mensch. Man hatte ihm nur eingeimpft, er sei vornehmer als andere, und er berichtete gern von den Kämpfen seiner Vorfahren. Er selbst fürchtete sich vor seinem eigenen Schatten. Sebastian war, wie gesagt, immer auf ein gutes Geschäft aus. Er betrieb auf der Insel einen florierenden Handel. Niemand wusste genau, wie er es anstellte, aber ich glaube, er bezahlte einen Fischer dafür, dass er ihm Waren lieferte, die er zu Wucherpreisen weiterverkaufte. Schokolade, Zigaretten, Softdrinks, Pornohefte und hin und wieder auch Schnaps, aber damit hörte er wieder auf, nachdem ihm Rune beinahe auf die Schliche gekommen wäre.«
Ia kam mit einem Tablett heraus und stellte Kaffeetassen auf den Tisch. In der Rolle der Hausfrau schien sie sich nicht besonders wohl zu fühlen.
»Ich hoffe, der Kaffee ist trinkbar. Mit diesen Maschinen kann ich überhaupt nicht umgehen.«
»Er ist bestimmt gut«, sagte Leon. »Ia ist ein so spartanisches Leben nicht gewohnt. Bei uns zu Hause in Monaco serviert uns das Personal den Kaffee. Es ist also eine gewisse Umstellung für sie.«
Patrik wusste nicht, ob er es sich eingebildet hatte, aber er glaubte, einen boshaften Unterton herausgehört zu haben. Kurz darauf war Leon wieder der liebenswürdige Gastgeber.
»Ich selbst habe in den Sommern auf Kalvö gelernt, einfach zu leben. In der Stadt hatten wir jeden Komfort, den man sich wünschen kann, aber da draußen«, er blickte aufs Wasser, »ließ mein Vater den Anzug im Schrank hängen und lief in Shorts und T-Shirt herum. Wir pflückten wilde Erdbeeren und gingen angeln oder baden. Luxus der einfachen Art.«
Er verstummte, als Ia den Kaffee einschenkte.
»Seitdem haben Sie nicht gerade einfach gelebt.« Gösta nippte an seiner Tasse.
»Ein Punkt für Sie«, sagte Leon. »Nein, das kann man nicht behaupten. Das Abenteuer hat mich mehr gereizt als die Stille.«
»Sucht man immer wieder den Kick?« fragte Patrik.
»Das ist eine äußerst simple Art, es zu beschreiben, aber es lässt sich vielleicht als Kick bezeichnen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ein bisschen wie bei einer Sucht ist, auch wenn ich meinen eigenen Körper nie mit Drogen verunreinigt habe. Natürlich wird man davon abhängig. Hat man einmal angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Man liegt nachts wach und fragt sich: Kann ich noch höher klettern? Wie tief kann ich tauchen? Wie schnell kann ich fahren? Irgendwann müssen diese Fragen beantwortet werden.«
»Aber nun ist damit Schluss«, stellte Gösta fest.
Patrik fragte sich, warum er Gösta und Mellberg nicht längst zu einem Kurs in Vernehmungstechnik geschickt hatte, aber Leon wirkte ungerührt.
»In der Tat, damit ist nun Schluss.«
»Wie kam es zu dem Unfall?«
»Es war ein stinknormaler Autounfall. Ia saß am Steuer. Wie Sie wahrscheinlich wissen, sind die Straßen in Monaco schmal und kurvig, an einigen Stellen geht es steil bergab. Uns kam jemand entgegen. Ia wich zu heftig aus, und wir kamen von der Fahrbahn ab. Das Auto fing an zu brennen.« Er sprach nun nicht mehr in lässigem Ton, sondern starrte vor sich hin, als würde er das Ganze noch einmal erleben. »Wissen Sie, wie selten Autos in Flammen aufgehen? Es ist nicht wie im Film, wo jeder Wagen bei einem Zusammenstoß sofort explodiert. Wir hatten Pech. Ia hatte gewissermaßen Glück im Unglück, aber ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen, weil meine Beine eingeklemmt waren. Ich spürte, wie meine Hände, meine Kleidung und meine Beine brannten. Dann das Gesicht. Anschließend bin ich bewusstlos geworden, aber Ia hat mich aus dem Auto gezogen. Dadurch hat sie sich die
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