Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
»Sagt, dass er bei weitem kein so guter Tänzer ist wie ich.«
»Ich habe nicht mit ihm getanzt. Euer Majestät, woher sollte ich das also wissen?«
Er lachte laut über ihre Unverschämtheit.
»Das war Edward Neville. Er ist Mitglied des geheimen Staatsrats. Seht zu, dass Ihr nicht in die Verlegenheit kommt, mit ihm zu tanzen.«
Dann rannte er einfach weiter. Als sie den Saal betraten und ihre Masken abnahmen, war sie völlig außer Atem.
Der König hatte getanzt und gelacht. Alle Wetten darauf, welcher der maskierten Tänzer der König sei, waren eingelöst worden. Außer Lord Neville hatte niemand gewonnen, denn er strich alle Gewinne seines Stellvertreters Charles Brandon ein, die er als Belohnung dafür erhielt, dass er bei dieser Scharade mitgemacht hatte. Auch das Festessen war zu Ende gegangen. Die verschiedenen Gänge waren verspeist, Turteltaube, Schwan, Pfau und Kiebitz, mit Knoblauch gewürztes Rindfleisch, Ochsenzungen und pikantes Walfleisch, woraus Anne sich eigentlich nichts machte, es aber trotzdem aß, weil es als besondere Delikatesse galt. Das Konfekt und die raffinierten Süßigkeiten waren unter Beifallsrufen hereingetragen worden – auch daraus machte Anne sich nichts. Zudem fand sie es ein wenig gotteslästerlich, die Heilige Jungfrau und das Jesuskind aus Zucker nachzubilden. Heinrich aber war nach alledem noch nüchtern genug, um ihr vorzuschlagen, dass sie sich in sein Gemach zurückziehen sollten.
»Euer Majestät, es ist schon spät, und ich muss gestehen, dass ich etwas erschöpft bin. Abgesehen davon ist es mehr als unziemlich, wenn …«
»Lord Neville wird auch anwesend sein. Genauso wie Charles Brandon und natürlich Eure Kammerzofe. Eure Tugend und Euer Ruf werden also keinesfalls Schaden nehmen. Ich stimme Euch zu, dass wir vorsichtig sein müssen. Ich möchte meinen engsten Vertrauten zur Feier des Tages ein Geschenk überreichen. Und Ihr könnt Euch gewiss zu den Freunden des Königs zählen.«
Also trug Anne ein fügsames Lächeln zur Schau und folgte dem König. Ihre Füße waren müde vom vielen Tanzen, ihr Kopf schmerzte vom vielen Wein, und ihr Bauch unter dem engen Mieder blähte sich vom vielen Essen. Wo nahm der Mann nur diese Kraft her? Das war einfach nicht normal. Er hatte bei diesem Fest mehr gegessen, getrunken und getanzt als jeder andere, und trotzdem schien er sich wohl zu fühlen. Als sie an dem Flur vorbeigingen, der zu ihrem Zimmer führte, dachte sie sehnsüchtig an ihr Bett. Abgesehen davon glaubte sie nicht, dass ihr Charles Brandon, der Jugendfreund des Königs und Ehemann seiner Schwester Mary, mit Wohlwollen begegnete. Zweifellos versuchte Heinrich ihn umzustimmen, indem er sie in den engsten Kreis des Königs aufnahm, aber sie war zu müde, um heute noch ihren Charme spielen zu lassen. Der König hatte etwas von Neujahrsgeschenken gesagt. Und einen König wies man nicht ab.
Heinrich hielt Wort. Es gab Geschenke für alle: besonders scharf geschliffene Schwerter für Lord Neville und Charles Brandon, dazu selbst verfasste Gedichte des Königs, die er sogar mit eigener Hand niedergeschrieben hatte, und Strumpfbänder mit der Tudorrose und Edelsteinknöpfen. Annes Zofe bekam Handschuhe aus feinstem Lammleder.
»Und dies gib deiner Frau, unserer teuren Schwester Mary, und sag ihr, dass wir ihre rücksichtslose Missachtung unserer Gunst vergeben, weil sie dich geheiratet hat.«
Seine Miene entsprach seinem eisigen Ton, als er Brandon ein kleines Päckchen überreichte. Anne fragte sich, was sich darin befinden mochte. Sosehr Heinrich den Freund seiner Jugendtage auch schätzte, so hatte er sich doch für seine verwitwete Schwester Mary Tudor einen anderen Ehemann vorgestellt, der für ihn und die Krone politisch von Vorteil gewesen wäre. Brandon senkte den Kopf, brachte damit seinen Dank zum Ausdruck, dass der König ihm wieder seine Gunst schenkte. Anne jedoch spürte einen kurzen Stich in ihrem Herzen, als sie an die in Ungnade gefallene Mary dachte, die nicht einmal zum Dreikönigsfest eingeladen worden war. Wenn der König Brandon wieder seine Gunst gewährte, warum dann nicht auch seiner Schwester Mary? Einen Augenblick lang war sie sogar wütend auf Lord Suffolk, weil er seine in Ungnade gefallene Ehefrau im Stich gelassen hatte.
Aber einen König wies man nicht ab.
»Ah, da ist noch ein weiteres Geschenk. Für unsere ganz besondere Freundin, Lady Anne.«
Er bat Anne, die Augen zu schließen, und drückte ihr ein kleines Täschchen aus
Weitere Kostenlose Bücher