Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
ich weiß, nein. Ich glaube, das Bild sollte nur die Eitelkeit alter Frauen darstellen.«
»Die Eitelkeit alter Frauen! Und wie sieht es mit der Eitelkeit alter Männer aus!«, entfuhr es Kate, bevor sie ihrer Stimme die Schärfe nehmen konnte. »Quentin Massys hätte ihre schrumpeligen Waden in feinen seidenen Strümpfen und ihre mageren Hinterbacken in Goldbrokat gehüllt malen sollen, ihre schielenden Augen in ihren pockennarbigen Gesichtern, die lüstern jeden Busen anstarren, den sie zu Gesicht bekommen …«
Catherines kurzes, aber durchdringendes Lachen hallte im Laden wider.
»Verzeiht mir«, sagte Kate, der erst jetzt bewusst wurde, wie grob ihre Worte klangen. »Das sollte keine Beleidigung gegenüber Eurem Bruder sein.« Da sie mittlerweile das Horn des Einhorns aufgegeben hatte, bohrte sie ihre Nadel nun in dessen Hals. »Ich sollte endlich lernen, nicht jeden Gedanken, der mir durch den Kopf geht, laut auszusprechen.«
»Nein. Das waren … ehrliche Worte. Quentin schätzte ehrliche Worte sehr. Er mochte Menschen, die eine eigene Meinung haben. Leere Gesichter hingegen hat er gehasst. Euch hätte er bestimmt mit … Verärgerung im Blick gemalt. Gefühle konnte er nämlich am besten darstellen – jede Art von Gefühl. Bei seinem Porträt des Geldverleihers und seiner Frau erkennt man deutlich die Gier in ihren Gesichtern.«
Das Stampfen und Wiehern eines Pferdes lenkte Kates Aufmerksamkeit zum Fenster.
»Anscheinend kommt gerade ein Kunde. Da ich solch eine kritische Meinung vertrete, sollte ich wohl lieber nach oben gehen. John wird bald nach Hause kommen. Dann muss er mich nicht suchen. Ich freue mich schon auf Freitag«, sagte sie, während bereits die Glocke über der Ladentür klingelte.
Kate konnte sich nur einige wenige Male mit Catherine Massys und ihrer kleinen Gruppe von Bibelfrauen treffen, bevor sintflutartige Regenfälle das Land unter Wasser setzten. Doch diese wenigen Male machten ihr klar, dass sie auf jeden Fall an diesen Treffen weiterhin teilnehmen wollte. Die Frauen beteten, sangen und diskutierten auf Flämisch. Zwei von ihnen sprachen leidlich Englisch und übersetzten für Kate, wenn die Diskussion über die lutherischen Schriften lebhafter wurde. Sie fragten sie sogar nach ihrer Meinung. Kate ahnte, worum es in ihren Gebeten ging, wenn Catherine laut vorbetete und einige der Frauen die Worte stumm mit den Lippen formten. Kate beherrschte inzwischen immerhin so viel Flämisch, um zu wissen, dass die Worte weder aus einem kirchlichen Gebetsbuch noch aus der römischen Liturgie stammten. Die Gebete waren inbrünstig, ernst und persönlich. Sie sah es schon daran, wie die Frauen beim Beten ihre Kinder an die Brust drückten.
Schon beim zweiten Treffen hatte Kate auf Catherines Vorschlag hin ihre Tyndale-Bibel mitgebracht. Nachdem Catherine aus dem Johannes-Evangelium vorgelesen hatte – da es keine flämische Übersetzung gab, hatte sie Luthers deutsche Bibel zur Hand genommen –, las Kate laut aus Tyndales englischer Übersetzung vor.
»Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben …«
Beim dritten Treffen brachte ihnen Kate eines von Luthers Kirchenliedern bei, das sie aus Johns Übersetzung abgeschrieben hatte. Der kleine Chor zählte ein Dutzend Frauen, und sie priesen fröhlich den Herrn, als sie jede Strophe von Eine feste Burg ist unser Gott sangen, zuerst auf Englisch und dann auf Deutsch. Sie taten es mit großer Inbrunst, besonders melodisch klang es allerdings nicht. Als sie zur letzten Strophe gelangten, wurde Kate plötzlich bewusst, wie viel sie und John doch mit dem deutschen Theologen und seiner Katharina gemeinsam hatten – und zwar nicht nur in Bezug auf die Gefahr, in die sie sich begaben. Die Frauen, die ihre Kinder stillten, während sie beteten, waren im Begriff, eine eigene Liturgie zu entwickeln. Kate war sich durchaus darüber im Klaren, dass die Prälaten der katholischen Kirche mit dieser Liturgie bestimmt nicht einverstanden wären.
»Man wird uns in Ruhe lassen, solange wir keine Messe abhalten«, hatte Catherine ihr versichert. Dennoch brachte sie, wenn während ihres Gesangs das Pochen des großen eisernen Türklopfers an der verschlossenen Ladentür ertönte, die Frauen mit einem Wink zum Schweigen. Kate konnte dann die Angst in ihren Gesichtern sehen, und auch sie hatte Angst. In England konnte man ausgepeitscht werden, oder es konnte einem Schlimmeres widerfahren, wenn man es wagte, das Vaterunser in seiner Muttersprache zu beten. Was
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