Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
für den Fall, dass jemand den Eingang beobachtet. Gestern bin ich ihm auf der Straße begegnet und wäre fast an ihm vorbeigelaufen, weil ich dachte, dass er irgendein Freisasse wäre. Er stand im Schatten einer Platane und teilte sich gerade mit einem Buckligen eine Pastete. Die beiden lachten miteinander, als wären sie alte Freunde – ein buckliger Bettler und der größte Linguist Englands, ja vielleicht von ganz Europa!«
Kate hatte John nie glücklicher erlebt. Er ging in seiner Arbeit auf, die er so sehr liebte. Gleichzeitig freute es sie, dass er, so vereinnahmt er von seiner Arbeit auch war, sie stets in seiner Nähe haben wollte. Tyndale, Kaplan Rogers und John hatten sich in einer Ecke des Söllers hinter einem geschnitzten hölzernen Schirm eine kleine Werkstatt eingerichtet. John hatte seinen Arbeitstisch so platziert, dass er Kate immer sehen konnte, wenn sie las oder stickte oder Mistress Poyntz, die sich über »die viele Rechnerei« beklagt hatte, half, die Geschäftsbücher des Englischen Hauses zu führen. (Kate schien dies nur eine kleine Gegenleistung für die vielen Mahlzeiten zu sein, die sie und John im Englischen Haus bekamen, und außerdem erlöste es sie wenigstens für eine Weile von ihrer verhassten Stickerei.) Manchmal ging sie in die Küche oder in den Garten, um dort zu helfen, oder sie folgte Mistress Poyntz in ihr Zimmer, um sich ein Gewand anzusehen, das nach der neuesten Mode geschnitten war. Wenn sie zurückkam, blickte John stets auf und lächelte sie an, während die Tinte von seiner Feder tropfte.
»Ich kann einfach besser denken, wenn ich meine wunderschöne Frau sehe. Du beflügelst mich.«
Auf diese angenehme Weise verstrich der Sommer, und es wurde Herbst. Kate konnte noch immer nicht sagen, was sie von dem berühmten Übersetzer Tyndale halten sollte. Es stimmte, dass er brillant war. Er war gewiss auch ein Getriebener, wenn nicht sogar ein Besessener. Tatsächlich kam es ihr manchmal so vor, als wäre sein Bestreben, England eine englische Bibel zu schenken, das Einzige, woran er dachte – gewiss ein ehrenwertes Lebensziel, für das man persönliche Opfer brachte, ja sogar Gefahren auf sich nahm. Zweifellos war der Mann für seinen Mut zu bewundern, und obwohl sie es John gegenüber nur ungern zugab, da sie ihn in seiner Begeisterung für einen so gefährlichen Mann nicht allzu sehr bestärken wollte, schien er auch ein überaus sanftes Gemüt zu haben.
Was sie jedoch an ihm beunruhigte, war ebenjene Zielstrebigkeit, die sie zugleich so sehr bewunderte. Immerhin gab es im Leben auch noch andere Dinge wie Familie und Kinder, Musik und Schönheit. Sie hoffte, dass Tyndales Besessenheit nicht ansteckend war. Denn John war ihr gefährlich nahe. Und wer konnte schon sagen, wie das noch enden würde?
Es war Dienstag. John hoffte, seine Arbeit im Kontor früher als sonst beenden zu können. Die Tage wurden allmählich kürzer, und Kate war froh, wenn er noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam. Als er von dem Frachtbrief aufblickte, den er gerade für einen deutschen Händler übersetzte, während dieser geduldig auf einem Stuhl neben seinem Tisch saß und wartete, stellte er zufrieden fest, dass sein Zimmer im Kontor beinahe leer war. Nur noch ein Kunde wartete auf ihn. Er hatte John den Rücken zugekehrt, während er dastand und zusah, wie die Schatten des Spätnachmittags über die Straße krochen.
John versah die Papiere des Deutschen mit dem offiziellen Siegel der Hanse und übergab sie ihm.
»Danke, Herr Frith.«
»Ich freue mich, Euch von Nutzen gewesen zu sein«, erwiderte John auf Deutsch.
Der Mann, der im Türbogen stand, trat einen Schritt zur Seite, um den Deutschen vorbeizulassen.
» Hoe kann ik u helpen? «, fragte John den Neuankömmling und sah auf.
Das Licht, das durch die offene Tür fiel, beleuchtete das Profil des Mannes. Johns Herz setzte einen Schlag aus und rutschte ihm in die Hose. Die Tür hatte sich hinter dem deutschen Kaufmann bereits geschlossen, sodass sie allein waren.
»So treffen wir uns also wieder … Master Gough«, sagte Stephen Vaughan auf Englisch, während er sich umdrehte und John direkt ins Gesicht sah.
Master Gough . Vielleicht hatte er ja nicht gehört, dass der Deutsche ihn mit seinem richtigen Namen angesprochen hatte.
Vaughan trat an den Schreibtisch und nahm unaufgefordert auf dem Stuhl Platz, auf dem eben noch der Deutsche gesessen hatte. »Was für ein glücklicher Zufall, Euch hier zu treffen«, sagte er.
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