Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
hilflose Geste.
»Ein bisschen … Asche, ein paar Knochenreste. Sir Humphrey und ich haben seine sterblichen Überreste eingesammelt und sie auf dem Friedhof von St. Dunstan beigesetzt. Tyndale hat oft in St. Dunstan gepredigt.«
Tyndale . Als sie ihren Mann das letzte Mal gesehen hatte, hatte Tyndale neben ihr am Kai gestanden, und sie hatten ihm zum Abschied nachgewinkt, während er davongesegelt war. Wenn Tyndale nach England gegangen wäre, dann wäre er gestorben und nicht John. Würde er dasselbe denken, wenn er es erfuhr?
»Weiß Tyndale es schon?«
»Ich bin sicher, dass er es inzwischen erfahren hat.«
Kate nickte, fragte sich, warum sie keine Tränen mehr hatte. Ihre Augen waren so trocken, dass sie schmerzten.
»Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen«, sagte sie. Sie wollte allein sein. Sie wollte schlafen und niemals wieder aufwachen.
42
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.
Paulus in einem Brief an die Korinther.
K ate durchlebte die folgenden Tage und Wochen wie eine Schlafwandlerin. Weder weinte sie um John, noch ging sie nach St. Dunstan auf den Friedhof. John schlief dort genauso wenig wie sein Kind unter dem Steinhaufen in dem Garten in Antwerpen. Beide waren nur noch Asche und Staub. Ihre Seelen waren längst heimgekehrt zu Gott. So wie es die ihre auch gern täte. Aber Endor pflegte sie gewissenhaft, und ihr Körper erholte sich allmählich.
Der Kapitän war die meiste Zeit in Woolwich, wo sein Schiff instand gesetzt wurde. Er kam sie aber oft besuchen und brachte ihr stets etwas zu essen und etwas Geld mit. Er riet ihr dringend davon ab, den Laden wieder zu öffnen. Cromwell hatte zwar ihre Entlassung aus dem Gefängnis angeordnet, dennoch sollte sie sich davor hüten, Thomas More einen weiteren Grund zu liefern, sie verhaften zu lassen. Er hätte sich jedoch keine Sorgen zu machen brauchen; Kate verspürte keinerlei Verlangen mehr, das Geschäft wieder zu öffnen. An manchen Tagen fragte sie sich, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Was aus ihr werden würde, wenn der Kapitän fortging, aber es kam ihr stets so vor, als ginge es gar nicht um sie. Es war, als beobachtete sie eine Figur aus einem Zunftspiel. Der Sommer verging ereignislos – eine Ironie des Schicksals, jetzt da es ihr vollkommen egal war. Sollte Thomas More doch kommen und sie holen. Was konnte er ihr denn jetzt noch antun?
Sie bekam einen Brief von Master Tyndale. Darin sprach er davon, dass John in dem großartigen Werk, das er geschaffen hatte, für immer weiterleben würde. Seine Worte waren freundlich und sollten ihr Trost spenden, taten es jedoch nicht.
Eines Tages besuchte sie Sir Humphrey, um ihr sein Beileid auszusprechen und sie zu fragen, ob sie irgendetwas brauche. Sie solle ihm nur eine Nachricht zukommen lassen. Er gab ihr auch die Bibel zurück, die sie ihm damals verkauft hatte – inzwischen schien das ein ganzes Leben her zu sein –, denn er sei sich sicher, dass sie auf einen solchen Familienschatz nicht verzichten wolle. Sie dankte ihm. Nachdem er gegangen war, wickelte sie die Bibel aus und legte sie in ihr Versteck zurück, während ihr durch den Kopf ging, wie eng das Schicksal ihrer Familie über so viele Generationen hinweg im Guten wie im Schlechten mit diesem heiligen Buch verknüpft gewesen war. Im Gegensatz zu früher empfand sie keinen Stolz. Sie empfand überhaupt nichts mehr – bis sie eines Tages Besuch bekam.
Zuerst erkannte sie die junge Frau nicht, die an ihre Tür klopfte.
»Das Geschäft ist geschlossen«, versuchte Kate sie durch die halb geöffnete Tür abzuwimmeln.
»Ich habe Licht und eine Silhouette hinter dem Fenster gesehen, da dachte ich, dass Ihr vielleicht wieder da seid«, sagte die Frau.
»Es tut mir leid. Ihr müsst Euch irren …« Etwas an der Art der Frau, ihr spitzes kleines Kinn und das kleine blonde Mädchen, das sie an der Hand hielt, weckte ihre Erinnerung. Dieser klare Blick aus den blauen Augen. »Ihr seid Winifred! Und das ist … das ist die kleine Madeline?«
Die Frau nickte lächelnd.
»Aber sie ist kein Säugling mehr.« Ihre Haut hatte erste Falten bekommen, und sie wirkte nicht mehr so kraftvoll und entschlossen. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, und ihr Gesicht sah bleich und verkniffen aus. Das Schicksal war offensichtlich nicht freundlich mit ihr umgegangen.
Das Kind, das im Gegensatz zur Mutter kerngesund aussah, sah Kate
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