Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
an.
»Könnt Ihr mir sagen, wo man ihn hingebracht hat?«, fragte sie.
Seine Gesicht wurde weicher, und er wandte den Blick ab.
»Sagt mir, wo man ihn hingebracht hat. Ich muss es wissen!«
»Smithfield. Sie haben ihn nach Smithfield gebracht«, erwiderte er mit ernster Stimme.
Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider wie die Glocken von St. Mary le Bow. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte bei jeder Silbe. Smith-field! Smith-field! Smith-field! Die Wände um sie herum bewegten sich im Rhythmus der Worte in ihrem Kopf. Die Welt um sie herum fiel zusammen, die letzte Hoffnung löste sich auf, Faden für Faden, bis sich in ihrem Kopf nur noch ein Haufen aufgetrennter Wolle befand.
Irgendwo schrie eine Frau.
Der 4. Juli 1533 war für Sir Thomas kein gewöhnlicher Freitag. Es war ein Festtag. Ein Tag der Sühne. Das Einzige, was diesen Festtag noch übertreffen konnte, war der Tag, an dem die Flammen William Tyndale verzehrten und seine üble Feder für immer zum Schweigen brachten. Er hoffte, dass das bald sein und er es noch erleben würde. Cuthbert hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass Cromwell gegen die heilige Maid von Kent wegen des Verdachts des Verrats ermitteln ließ. Er würde sicher bald herausfinden, dass Thomas nicht nur einmal mit Elizabeth Barton gesprochen hatte. Das Parlament hatte sich gegen die Kirche gestellt. Selbst die Bischöfe hatten ihren Mut verloren – allesamt erbärmliche Feiglinge. Es war nur eine Frage der Zeit. Er bereitete seine Familie bereits auf das Unvermeidliche vor, hatte eines Abends, als sie beim Essen saßen, sogar seine Verhaftung inszeniert. Ihre Reaktionen waren sehr aufschlussreich gewesen.
Aber daran wollte er heute nicht denken, sagte er sich, als er mit seinem Flagellum seine private Kapelle aufsuchte. Die Sonne stand im Zenit. Jetzt würden sie das Feuer entzünden. Er schloss die Augen und atmete tief ein, so als könne er den Rauch von brennendem Holz, Haaren und Fleisch in seine Lungen saugen. Er hob die kleine, mit Knoten versehene Peitsche und spürte den ersten, beißenden Schmerz auf seinen Schultern. Dann wieder. Und wieder, bis ein verzückter Schauder durch seinen Körper lief.
John Frith empfand eine seltsame Ruhe, als die Soldaten ihn und den jungen Lehrling Andrew Hewer, der mit ihm zusammen sterben sollte, zu dem Brandpfahl direkt vor der Londoner Stadtmauer führten. Die Sonne verbarg ihr helles Antlitz hinter einem Dunstschleier, der über dem blassen Julihimmel lag, so als wolle sie sich vor dem Anblick dieser Scheußlichkeit schützen. John flüsterte seinem letzten Gefährten die Worte zu, die Tyndale in seinem letzten Brief geschrieben hatte. »Wenn die Qual deine Kräfte übersteigt, dann vergiss nicht, Andrew, ›was auch immer ihr in meinem Namen erbittet, werde ich euch geben‹. Bete im Namen Jesu Christi zu unserem Vater im Himmel, und er wird unseren Schmerz lindern.«
John hatte sich in den letzten Tagen an diese Worte geklammert wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz. Er hatte inständig dafür gebetet, dass ihn sein Mut nicht verlassen möge und dass er dem jungen Mann mit seinem Vorbild Kraft und Trost geben konnte. Der Lehrling nickte mit zusammengepressten Lippen und schloss die Augen, als man ihn als Ersten auf die wackelige hölzerne Plattform führte und ihn, mit dem Rücken zur Menge, an den Pfahl band.
Dann kam John an die Reihe. Sie schnürten ihn mit dem Rücken zu Andrew, das Gesicht zur Menge, an den Pfahl. Als Johns gefesselte Hände die seines Gefährten berührten, spürte er, wie sehr sie zitterten. John gelang es, zwei seiner Finger zu ergreifen. »Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt werdet«, flüsterte John. Das Zittern hörte jedoch nicht auf.
Als sie ihn mit seinem Hals und seiner Taille an den Pfahl banden, ließ John seinen Blick langsam über die Menge schweifen. Bis auf den Pfarrer, der die Verbrennung beaufsichtigte, sah kein vertrautes Gesicht zu ihm herauf. Das war gut so. Diese letzte Einsamkeit wollte er mit niemandem teilen. Wäre er gezwungen, das Entsetzen in Kates Gesicht zu sehen, so würde dieses Entsetzen auch sein Herz erfassen. Dann könnte er bestimmt nicht das ertragen, was er ertragen musste. Er dachte an Kate, die weit weg und in Sicherheit war, so als hätte er die Frau, die sich im Englischen Haus in Antwerpen über ihre Stickarbeit gebeugt hatte, in einem anderen Leben geliebt. Tyndale hatte versprochen, sich um sie zu kümmern. Und selbst
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