Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
deren Leben von Anfang bis Ende ein einziger Kampf gewesen war, musste schon immer eine schwere Last tragen. Ihr Leben war gänzlich anders verlaufen als das der reichen, schönen Witwe aus Lübeck. Gab es überhaupt Gerechtigkeit? Kate wandte den Blick von dem Grab ab, konnte den Anblick nicht länger ertragen. Hatte Charlotte auf den Kapitän gewartet, als er letzten Abend zurückkam? Hatte er ihr erzählt, dass sie Winifred zu den Nonnen gebracht hatten, damit man sie wusch und aufbahrte? Dass er für die Trauerfeier einer armen Näherin aufgekommen war? Dass er die Nonnen gebeten hatte, sich um Winifreds Leiche zu kümmern, als wäre sie seine eigene Schwester gewesen. »Um ihren Kopf und zu ihren Füßen sollen die ganze Nacht Kerzen brennen«, hatte er gesagt. Er hatte auch das Grab bezahlt, das auf dem Kirchhof lag, und nicht dort, wo die Armengräber waren. Kennt die schöne Witwe aus Lübeck Tom Lassers Herz?, fragte Kate sich unwillkürlich. Oder sah sie in ihm nur den gutaussehenden Seekapitän mit den stets schlagfertigen Antworten und dem immer strahlenden Lächeln.
»Ich hoffe, Ihr konntet sie noch einmal sehen, bevor sie wieder abgereist ist.« Kate spürte, wie ihre Haut bei dieser Lüge zu glühen begann, und hoffte, dass er es nicht merkte.
»Oh, sie ist noch nicht abgereist. Sie wird noch eine ganze Weile in London sein. Sie besucht gerade ihre englischen Händler. Ich kann Euch zusammen mit ihr besuchen, wenn Ihr das wollt, dann könnt Ihr sie kennenlernen.«
Kate wollte nicht. Sie empfand eine plötzliche und völlig unerklärliche Abneigung gegen die blonde Witwe aus Lübeck mit ihrem roten Schmollmund.
»Macht Euch keine Umstände. Ich bin mir sicher, sie wäre wenig erfreut. Soweit ich mich erinnere, hat sie etwas in der Art gesagt, dass sie Euch ›für sich allein haben‹ will.«
Ein plötzlich einsetzender feiner Sprühregen verstärkte die Trübseligkeit dieses Tages. Auch John hatte seine letzte Ruhe hier auf dem Friedhof gefunden. Sie war noch nie an seinem Grab gewesen, hatte sich strikt geweigert, auch nur in seine Nähe zu kommen. Jetzt jedoch war sie sich plötzlich sicher, dass sie diesen Ort nicht verlassen durfte, ohne es gesehen zu haben.
»Wenn Ihr Johns Grab sehen wollt, Kate, dann werde ich es Euch zeigen.« Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Es ist dort drüben. Direkt an der Mauer.«
Sie nickte, überrascht über das Schluchzen, das ihr in der Kehle steckte. Er führte sie ein paar Schritte von Winifreds Grab weg, dorthin, wo sich wilder Wein an der steinernen Mauer rankte. Unkraut und Gras bedeckten inzwischen den Erdhügel. Sie war überrascht, wie groß er war.
»Ihr sagtet doch …«
»Es waren tatsächlich noch ein paar Knochen übrig. Wir haben sie in eine Kiste gelegt.«
Sie zeigte auf ein schlichtes Kreuz, klein, aber aus Stein. Es trug keinen Namen.
»Habt Ihr das aufstellen lassen?«
Er nickte.
»Wir konnten seinen Namen nicht darauf schreiben. Alles, was Monmouth ausrichten konnte, war, dass er wenigstens hier auf dem Friedhof begraben wurde.«
Er entfernte sich ein paar Schritte, als sie sich bückte, um den glatten Stein zu berühren. Plötzlich war sie vollkommen ruhig und im Reinen mit sich.
»Du fehlst mir, John«, flüsterte sie. »Pass gut auf meine Freundin Winifred auf. Du hättest sie gemocht, das weiß ich. Sie war genauso tapfer wie du.«
Dann erhob sie sich und ging zu Kapitän Lasser, der unter einer großen Eibe auf sie wartete. Keiner von beiden sprach ein Wort, als sie in die Paternoster Row zurückgingen.
»Ist Maman noch in der Erde auf dem Friedhof?«, fragte Madeline eine Woche nach der Beerdigung.
»Nein, sie ist jetzt im Himmel.«
»Aber ich konnte ihr nicht einmal Auf Wiedersehen sagen«, beschwerte sich das Kind schmollend.
»Du kannst es ihr sagen, wenn du betest. Sag Gott einfach, was du ihr sagen willst. Er wird dafür sorgen, dass sie es erfährt.«
»Kommt sie morgen wieder?«
»Nein, sie kommt morgen nicht wieder.«
Dieses Gespräch wurde für sie beide zu einer Art Litanei.
Nach ungefähr einer Woche sah Madeline sie mit einem Mal nachdenklich an.
»Ist Maman bei Papa?«
»Ja, Madeline, sie ist bei deinem Vater«, antwortete Kate, erleichtert darüber, dass das Kind endlich verstand.
»Bleibt Madeline bei Kate und Endor?«, fragte die Kleine.
»Ja, Madeline bleibt bei Kate und Endor«, bestätigte Kate. Sie brachte es nicht über sich hinzuzufügen: »Jedenfalls so lange, bis du in dem
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