Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
erschreckte sie der Gedanken, dass er schon bald nicht mehr bei ihnen sein würde. Vor allem Madeline würde ihn vermissen. Und Endor? Endor würde sich vielleicht sogar entscheiden, ihn zu begleiten.
Auch sie, Kate, würde ihn vermissen; das konnte sie nicht leugnen. Sie war zufrieden gewesen, solange er sich in Woolwich, also in ihrer Nähe, aufhielt und sie sich auf seine Besuche freuen konnte – wegen Madeline, wie sie sich einzureden versuchte. Das, was sie für den Kapitän empfand, war gewiss nichts anderes als die Zuneigung, die eine hilflose Frau ihrem Wohltäter schuldig war. Aber er kam nicht in seiner Eigenschaft als Wohltäter in ihren Träumen zu ihr. Sie erwachte mehr als einmal mit Schuldgefühlen, während sie verzweifelt versuchte, Johns Gesicht heraufzubeschwören. Welche Frau träumte von einem anderen Mann, wenn ihr Ehemann erst ein paar Monate unter der Erde lag? Kann eine Frau zwei Männer gleichzeitig lieben?, fragte sie sich oft. Aber wie auch immer. Das war ohne jede Bedeutung. Tom Lasser würde schon bald fort sein, und Kate hatte endlose einsame Jahre vor sich, in denen sie diese Träume bereuen konnte.
43
Grauäugige Athene schickte ihnen eine günstige Brise, einen frischen Westwind, der über die weindunkle See sang.
Aus Homers »Odyssee«,
erstes Buch.
G anz London feierte den ersten Mai. Jeder Kirchplatz war mit einem Maibaum geschmückt, und die Moriskentänzer stellten ihre Kunst zur Schau. Kapitän Tom Lasser war an den lärmenden Festlichkeiten jedoch nicht interessiert. Stattdessen zog er sein bestes Gewand an und machte sich auf den Weg zur Fighting Cock Tavern, eine düstere Schenke, in der stets gut betuchte Spieler saßen, die er ausnehmen konnte. Sie befand sich in Southwark, in der Nähe der Arena für die Bärenhatz und dem Platz für die Hahnenkämpfe, sodass die Zuschauer, wenn sie des blutigen Spektakels überdrüssig waren, es nicht weit hatten, wenn sie ihren Durst stillen und sich einem aristokratischeren Zeitvertreib widmen wollten. Nachdem ihr Blut durch die Gewalt und den unbarmherzigen Tod in Wallung gebracht worden war, zeigten sie sich beim Kartenspiel stets risikobereiter.
Tom blinzelte, als er den Raum betrat, der nur von einem einzigen Glasfenster erhellt wurde. Nachdem sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, versuchte er abzuschätzen, ob sich dieser Tag für ihn lohnen würde. Er wollte nicht noch woanders hingehen. Er hatte zwar auch im Boar’s Head stets Glück, aber heute hatte er nicht viel Zeit. Der Pöbel würde gegen Abend hin immer rauflustiger, sogar aufrührerisch werden, deshalb hatte er Charlotte versprochen, sie von der Schneiderin abzuholen und sie nach Hause zu begleiten. An einem Tisch unter dem Fenster saßen ein paar Höflinge beim Würfelspiel, aber Glücksspiele waren nichts für Tom. Beim Würfeln gewann man nur mit Hilfe von Fortuna – oder durch Betrug. Und Tom betrog nie, und er verließ sich nur höchst selten auf sein Glück. Ein Mann, der Gesichter lesen konnte, brauchte keines von beidem, wenn er sich für ein Spiel entschied, bei dem er bluffen konnte.
Im Schatten des kalten Kamins saßen drei Männer über ihre Spielkarten gebeugt. Zwei von ihnen sahen wie Kaufleute aus, der dritte war ein stutzerhafter Kleriker, den er überraschenderweise wiedererkannte. Die Aussicht, gegen Henry Phillips zu spielen – dies zum zweiten Mal –, war nicht gerade erfreulich. Tom hatte die Börse des Emporkömmlings beim letzten Mal, als sie Karten gespielt hatten, erheblich erleichtert, nur um später zu erfahren, dass das Geld, das dem jungen Mann verlustig gegangen war, seinem Vater gehört hatte. Der Sheriff hatte seine Ersparnisse törichterweise seinem in Oxford ausgebildeten Sohn anvertraut, damit er sie gewinnbringend »investierte«. Eine höchst unglückliche Entscheidung. Tom war später zu Ohren gekommen, dass der Sheriff seinen Sohn verstoßen hatte. Tom hatte deswegen sogar einen Moment lang ein schlechtes Gewissen verspürt. Aber wenn Phillips das Geld nicht an ihn verloren hätte, so sagte er sich, dann hätte ihn eben jemand anders ausgenommen. Er war wie eine reife Pflaume, die nur gepflückt werden musste. Tom hatte einfach zufällig unter dem Baum gestanden. Und außerdem war es für eine gute Sache gewesen. Von dem Geld des Sheriffs hatte er sich eine neue Takelage für sein Schiff gekauft. Beim Geräusch des Riegels, der wieder in seine Halterung fiel, sah Henry Phillips zur Tür, und ihre Blicke
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