Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
stolze Haltung, die im Widerspruch zu ihrem niedrigeren Rang als Tochter eines einfachen Ritters unter all den anwesenden Herzögen und Grafen stand.
Anne bestieg jedoch nicht zusammen mit Heinrich das Podium. Sie hatte den König überzeugen können, dass eine solche Geste verfrüht sei und sie nur den Zorn ihrer Feinde auf sich ziehe. Stattdessen blieb sie am Tisch direkt vor dem Podium stehen, wo der König sie in die Obhut ihres Bruders George übergeben würde. Befangen versuchte Anne ihre Hand wegzuziehen, als der förmliche Kuss deutlich zu lange dauerte. Heinrich jedoch warf ihr wie ein kleiner Junge, der mit dem Löffel im Honigtopf erwischt wird, ein schalkhaftes Lächeln zu und hielt ihre Hand weiter fest. Er genießt es, sie zu provozieren , dachte sie. Sie war sich bewusst, dass jeder im Raum sie genau beobachtete und Vermutungen darüber anstellte, was die öffentlich bekundete Zuneigung des Königs wohl bedeuten mochte. Sie war froh, dass sie das gelbe Brokatkleid mit den mit Hermelin besetzten grünen Ärmeln angezogen hatte. Für den Pelz war es in dem überhitzten Saal zwar etwas zu warm, aber das dazu passende Haarband, das mit Smaragden und Goldstickerei verziert war, ließ ihre dunklen Augen strahlen. Heinrich sah sie in diesem Kleid besonders gern. Der Kopfputz und die Ärmel waren ein Geschenk von ihm gewesen.
Heinrich stieg auf das Podium und nahm auf dem hochlehnigen Stuhl direkt gegenüber von Anne Platz. Stühle scharrten, als sich jetzt auch die Höflinge auf ihre Plätze setzten. Das ist das Schlimmste , dachte sie, während sie Heinrich beruhigend zulächelte. »Schau, so ist es besser«, sagte ihr Lächeln. Er warf ihr ein boshaftes Grinsen zu, das normalerweise nichts Gutes verhieß. Sie fragte sich gerade, wer diesmal das Opfer seiner Ränkespielchen sein würde – ihre Erzfeinde vielleicht –, als er sein Glas hob und, den Blick fest auf Anne gerichtet, mit lauter Stimme rief: »Zeremonienmeister, trinken wir auf die bezaubernde Lady Anne Boleyn, die uns heute mit ihrer Gegenwart beehrt.«
Obwohl sie spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde, erwiderte Anne seinen Blick. Nein, sie würde ihre Augen nicht in geheuchelter Bescheidenheit niederschlagen. Er betonte immer wieder, wie sehr er doch ihr mutiges Temperament liebte; nun, jetzt würde sie es ihm beweisen. Sie stand auf und vollführte mit einer einzigen, fließenden Bewegung einen tiefen Knicks, sodass ihre Ellbogen fast über den Boden streiften. Unter den Höflingen erhob sich verhaltener Applaus. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, hob Heinrich seinen Pokal und leerte ihn ungehemmt in einem Zug, um danach in ein genauso ungezwungenes Lachen auszubrechen.
Füll du nur deinen königlichen Wanst, Heinrich , dachte sie, denn sie wusste, dass er sie am Ende dieses Abends zu sich rufen lassen würde, und je mehr er aß und trank, desto weniger Mühe würde sie haben, seine Annäherungsversuche abzuwehren. Aller Wahrscheinlichkeit nach schlief er irgendwann ein, und ihr blieben die zunehmend peinlichen und sogar gefährlichen Ausweichmanöver erspart.
Als die Musiker zu spielen begannen und die Diener an den anderen Tischen Wein einschenkten, musterte Anne ihre Feinde auf dem Podium. Unter ihren gesenkten Lidern hervor beobachtete sie Wolsey, den Mann, den sie auf dieser Welt am meisten hasste und der ihren Geliebten vom Hofe verbannt hatte. Jetzt sah er sie von seinem Platz auf dem Podium aus an, während auf seinem Gesicht eine seltsame Mischung aus Missbilligung und Ungläubigkeit lag. Sie bemerkte auch, dass der König ihn völlig ignorierte.
Wie fühlt es sich an, Mylord Kardinal, den Unmut des Königs zu spüren? Wenn ich irgendwann einmal etwas zu sagen habe, werdet Ihr mehr als nur Unmut zu ertragen haben. Und ich werde Macht bekommen. Ihr habt meinen süßen Percy mit Schimpf und Schande davongejagt, habt ihn mit eingekniffenem Schwanz zu seinem Vater nach Hause geschickt wie einen winselnden Welpen, sodass er in keiner Weise mehr dem herrlichen jungen Mann meiner Träume entsprach. Nun, wer ist jetzt von uns beiden der Dumme, Mylord Erzbischof? Wenn die törichte Tochter eines kleinen Ritters keinen Lord haben darf, dann nimmt sie sich eben einen König.
Neben dem verhassten Kardinal saß Thomas More. Bei dem Trinkspruch zu ihren Ehren hatte er zwar sein Glas erhoben, aber er hatte es nicht an seine Lippen geführt. Sie war sich sicher, dass das mit voller Absicht geschehen war. Auf der anderen Seite des
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