Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Kardinals saß Minister Thomas Cromwell, dessen Gesichtsausdruck im krassen Gegensatz zu den gleichmütigen Gesichtern seiner Tischnachbarn stand. Er lächelte beinahe. Unter den Höflingen ging das Gerücht, dass er insgeheim der lutherischen Sache anhing, was erklärte, warum er als einer der wenigen keine Antipathie gegen Anne hegte. Aber vielleicht war er auch nur einer dieser Speichellecker, die bei allem, was der König tat, stets nur lächelten. Wie auch immer, sie pflegte jedenfalls vorsichtigen Kontakt zu ihm, versuchte ihn mit freundlichem Lächeln und indem sie ihn oft nach seiner Meinung fragte, für sich zu gewinnen.
Ihr Bruder George unterbrach sie in ihren Gedanken.
»Vater wäre sehr erfreut, wenn das Haus Boleyn die Gunst des Königs genießt«, flüsterte er. »Ein Segen für uns alle, dank dir, liebe Schwester. Darauf trinke ich«, sagte er und hob seinen Becher, um sich von einem der Kämmerer einschenken zu lassen.
»Psst, George. Du zeigst deine Freude viel zu offen. Die Gunst eines Königs ist genauso unbeständig wie sein Verlangen. Denk an unsere Schwester. Alles, was von der Beziehung zum König übrig geblieben ist, ist ein Bastard. Sei auf der Hut und versuch herauszufinden, wer deine Feinde sind.«
»Ach, Annie, du bist doch viel klüger als Mary. Sie hat sich ihm viel zu bereitwillig hingegeben. Das Vergnügen liegt oft mehr in der Jagd selbst als im Erlegen der Beute. Hier, nimm etwas von diesen kandierten Früchten. Es ist derselbe erste Gang, der auch an der Tafel des Königs serviert wird. Man behandelt uns sogar mit mehr Aufmerksamkeit als Lord Suffolk, den Turnierpartner des Königs.« Er stieß sie an und schnaubte verächtlich. »Sieh ihn dir nur an. Er stochert in seinem Salat herum, als wäre es Hühnerfutter.«
»Er kann von Glück sagen, dass er überhaupt noch dort sitzen darf. Heinrich ist verärgert über ihn, seit …«
»Lady Anne.« Die Stimme Seiner Majestät auf dem Podium war laut genug, dass jeder im Saal sie hören konnte. Die Musik war abrupt verstummt. »Ist der erste Gang nach Eurem Geschmack?«
Sie stand auf und machte diesmal nur einen flüchtigen Knicks, während sie sich bewusst war, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet waren.
»Er ist köstlich, Euer Majestät. Ich danke Euch, dass Ihr uns eingeladen habt.«
»Dann setzt Euch doch bitte wieder und esst weiter. Und unterhaltet Euch weiterhin gut mit Eurem Bruder.«
Kleine vergoldete Kuchen in Form von Kronen wurden jetzt aufgetragen. »Sollen wir die essen oder aufsetzen?«, spottete Heinrich laut. Dann nahm er seine goldene Adelskrone ab und setzte an deren Stelle den Kuchen auf.
George neben ihr sah verunsichert aus, dann griff auch er nach seiner kleinen Kuchenkrone. Anne legte ihre Hand auf seine und schüttelte kaum merklich den Kopf, dann flüsterte sie ihm zu: »Der König verachtet jene, die er lächerlich macht.«
Nervöses Lachen war im Saal zu vernehmen, als einige der Gäste es dem König gleichtaten. Anne warf George noch einmal einen warnenden Blick zu. Heinrich führte eine Posse auf, verleitete die Geistloseren unter ihnen dazu, seinem Beispiel zu folgen, damit er sich später über sie lustig machen konnte.
»Troubadour, wir würden gern ein Liebeslied für die Damen hören. Spielt.«
Der König wedelte mit dem Kuchen herum, den er wieder von seinem Kopf genommen hatte. Dann tat er so, als würde er ein großes Stück davon abbeißen, während er seinen Blick grinsend über die Tische wandern ließ, um zu sehen, wer es ihm gleichtun würde. Er lachte schallend, als viele der Höflinge in die Kuchen bissen, auf denen es inzwischen vor Kopfläusen wahrscheinlich nur so wimmelte. Dann winkte er seinen Mundschenk ungeduldig zu sich, damit er seinen Pokal wieder füllte. Obwohl der Abend noch jung war, schien Heinrich bereits jetzt ziemlich betrunken zu sein – aber Anne wusste aus Erfahrung, dass man sich dessen nie ganz sicher sein konnte. Manchmal täuschte er den Rausch auch nur vor, damit sich seine Feinde sicher fühlten und unvorsichtig wurden.
Sie hoffte jedoch, dass er tatsächlich schon zu betrunken war, um zu bemerken, dass Sir Thomas More, der das ganze Theater geflissentlich ignoriert hatte, penibel die dünne Vergoldung von seinem Kuchen kratzte, so als fürchtete er, sich zu vergiften, wenn er sie aß. Sein Gesichtsausdruck ließ dabei keinen Zweifel daran, dass ihm die Scherze des Königs oder die vergoldeten Kuchen oder auch beides missfielen. Nicht, dass ihr
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