Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
seinen Pagen beauftragen, Anne nach Hampton Court zu bringen. Morgen bei seiner Rückkehr würde sie ihn dann schon erwarten.
»Frömmigkeit steht einer Königin wohl an«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter Anne. »Aber nicht im Übermaß.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie erhob sich und beugte das Knie vor dem kleinen, behelfsmäßigen Altar – ein schlichtes Kreuz, ein schmuckloses Gebetbuch und eine Kniebank in der Ecke ihres Gemachs –, dann drehte sie sich um und machte einen Knicks.
»Euer Majestät. Ihr habt die Königin besucht?« Da sie von Cromwell bereits über diesen Besuch informiert worden war, fragte sie, ohne die Antwort des Königs abzuwarten: »Wie geht es Königin Katherine?«
»Nicht gut, Lady Anne. Sie ist sehr traurig. Ich traf sie ebenfalls vor einem Altar kniend an. Wahrscheinlich hat sie dafür gebetet, dass Euch die Pocken befallen mögen.« Er sprach leise, weil die Flügeltür, die zu ihrem Gemach führte, offen stand. Ebenjenes Gemach hätte Katherine benutzt, wenn sie nach Hampton Court gekommen wäre.
»Nein, Euer Majestät. Die Königin war stets freundlich zu mir, als ich noch in ihren Diensten stand. Ich erinnere mich, dass sie mich, als …«, sie beherrschte sich gerade noch und sagte nicht: »als Wolsey den lieben Percy wegschickte«, »als ich einmal sehr krank war, wie eine Mutter umsorgt hat. Allein der Gedanke, dass ich Schuld an ihrer Traurigkeit haben könnte, betrübt mich sehr.«
Das graue Licht des trostlosen Herbsttages drang durch das geteilte Fenster über dem Altar und verlieh dem Zimmer einen kalten Schimmer. Ein Tropfen Wachs von einer Kerze, die unter dem Kreuz flackerte, fiel wie ein Tropfen Blut auf das Altartuch aus weißem Leinen. Heinrich kratzte es mit seinem sorgfältig manikürten Fingernagel weg. Sein Rubinring mit dem Siegel warf dabei ein Prisma aus Rot, Purpur und Gelb auf das Tuch.
»Euer Altar ist so schlicht wie sonst nur lutherische Altäre, Lady Anne.«
»Er dient lediglich meiner persönlichen, stillen Andacht, Sire.«
»Und persönlich verachtet Ihr wohl die Liturgie und das ganze Drum und Dran der Messe?«
»Daraus habe ich noch nie ein Geheimnis gemacht. Möchtet Ihr Euch nicht setzen, Euer Majestät? Ich werde Euch eine Erfrischung bringen lassen.« Er sah ungewöhnlich müde aus. Seine Reitstiefel hatte er noch immer an.
»Nein. Kommt und macht mit mir einen Spaziergang durch das Labyrinth.«
»Es ist ziemlich kalt draußen. Der König könnte sich erkälten.«
»Der König wünscht mit Euch allein zu sein, um ungestört mit Euch sprechen zu können.«
Sein Gesicht war ernst. Er besuchte die Königin und wollte ungestört mit ihr sprechen .
»Bring meinen Mantel«, rief sie ihrem Dienstmädchen zu, das zusammen mit dem Lakaien des Königs vor der offenen Tür wartete. Das Mädchen hatte den Mantel bereits von seinem Haken genommen und kam jetzt mit eiligen Schritten auf sie zu.
Als sie zwischen den hohen Hecken entlanggingen, machte Heinrich keinerlei Anstalten, sich ihr zu nähern. Er nahm nicht einmal ihre Hand, obwohl sie allein im Labyrinth waren, da sich an solch einem trüben Tag keine Müßiggänger dort aufhielten. War das ein schlechtes Zeichen? Hatte er beschlossen, sich doch mit Katherine zu versöhnen? Gab er das Vorhaben der Scheidung auf? Nun, seine Mätresse würde sie nicht werden. Niemals. Entweder Königin oder gar nichts. Sie vergrub ihre Hände in den Taschen ihres Mantels, um sie warm zu halten.
»Ich habe das Buch gelesen, das Ihr mir gegeben habt«, sagte er.
»Welches Buch meint Ihr, Euer Gnaden?«
»Das von Tyndale. Der Gehorsam eines Christenmenschen. «
»Und was haltet Ihr davon?«
»Ich denke, es ist ein Buch, das alle Könige lesen sollten.«
»Ganz genau, Euer Hoheit. William Tyndale ist ein wirklich brillanter Mann. Es wäre Euch sehr gedient, wenn Ihr ihn am Hof hättet.«
Sie gingen schweigend weiter. Nur ein gelegentliches Rascheln war zu hören, wenn sie mit ihren Armen die Buchsbaumhecke streiften. Schließlich brach er das Schweigen.
»Ich gestehe ihm diese Brillanz durchaus zu, aber er schreibt auch vieles, das sehr beunruhigend ist.«
»Beunruhigend, Euer Hoheit? Wie meint Ihr das?« Sie wusste, was er sagen würde, noch bevor er Luft holte, um ihr zu antworten. Es war das, was alle sagten, die Reformen ablehnend gegenüberstanden.
»Sir Thomas behauptet, dass Tyndales Ansichten genauso ketzerisch wie die von Luther seien: Er betont genau wie er die
Weitere Kostenlose Bücher