Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Erlösung durch Gnade, leugnet die Existenz des Fegefeuers und beharrt darauf, dass der Einzelne nur Verantwortung Gott und nicht der heiligen Kirche gegenüber habe. Dennoch ist es seltsam, dass More und Tyndale Feinde sind, jedenfalls wenn man bedenkt, dass sie in vielen Dingen dieselben Ansichten vertreten: Beide sind geniale Denker, beide bewundern Erasmus, beide sind von der neuen Gelehrsamkeit geradezu begeistert. Mir scheint, sie sind wie zwei Äste ein und desselben Baumes. Auch Sir Thomas hat früher oft von der Notwendigkeit von Reformen gesprochen. Ich begreife einfach nicht, warum er Tyndale nun als Kandidaten für den Scheiterhaufen sieht.«
»Das liegt an der Bibel«, sagte Anne, die merkte, dass ihr die Nase wegen der Kälte lief. Sie schniefte vorsichtig, um keinen Anstoß zu erregen, und wünschte, sie hätte ein Taschentuch mitgenommen. Ging der König mit ihr spazieren, nur weil er mit ihr diskutieren wollte? Angesichts seines Besuchs bei Katherine wollte sie ihn das jedoch nicht fragen. Stattdessen sagte sie:
»Sir Thomas stellt die heilige Mutter Kirche über die Heilige Schrift. Er würde jede Heilige Schrift, die nicht auf Latein geschrieben ist, und jeden, der es wagt, sie zu übersetzen, auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrennen, nur damit nicht irgendein Bauer sie lesen kann und die Wahrheit darin erkennt.«
»Auch ich sehe es nicht als notwendig an, dass die Bauern die Heilige Schrift selbst lesen können. Sie sind einfach zu unwissend. Sie legen sie nur falsch aus, und wir müssten uns dann mit unzähligen falschen Doktrinen auseinandersetzen. Jeder Mensch wäre dann sein eigener Priester. Aber ich stimme mit Tyndale darin überein, dass der König nur Gott allein Rechenschaft schuldig ist. Das würde natürlich im Umkehrschluss bedeuten, dass der Papst nicht über dem König steht. Und das wiederum hat mich auf eine neue Idee gebracht, wie ich zukünftig mit Katherine umgehen werde.«
Eine neue Vorgehensweise? Er meinte damit doch nicht etwa, dass er mit dem Papst brechen und sich dem Luthertum zuwenden wollte? Das wäre für den »Verteidiger des Glaubens« in der Tat ein unglaublicher Sinneswandel. Aber wie auch immer, dachte sie erleichtert, er will trotz des erbitterten Widerstands der Kirche weiterhin die Scheidung.
»Dann gebt Ihr also nicht auf?«
»Nein. Niemals. Meine Ehe mit Katherine ist eine Sünde. Ich habe ihr noch einmal mitgeteilt, dass ich mit aller Entschlossenheit danach streben werde, dass sie endlich beendet wird. Wenn Tyndale recht hat und der König tatsächlich nur Gott allein Rechenschaft schuldig ist, dann ist es jetzt umso mehr meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Ehe aufgelöst wird, damit mir Gottes Segen wieder zuteilwird und ich England einen Erben schenke. Ich beabsichtige Euch zu meiner rechtmäßigen Königin zu machen. Ihr werdet die Mutter meines Sohnes werden.«
Während ihr Herz schneller schlug, rief sie sich in Erinnerung, dass er ihr dieses Versprechen nicht zum ersten Mal gab. In aller Regel folgten darauf Annäherungsversuche, denen zu widerstehen, ihr zunehmend schwerer gefallen war. Schließlich war auch sie nur eine Frau. Und er konnte äußerst charmant sein – der mit Abstand prächtigste Pfau weit und breit.
»Was Master Tyndale angeht«, sagte sie und versuchte ihn damit von seiner üblichen Taktik abzulenken. »Glaubt Ihr, dass es möglich wäre, ihn nach England zurückzuholen? Es wäre für Euch nur von Vorteil, wenn ein so hervorragender Mann Mitglied Eures Kronrates wäre. Es gibt da übrigens noch jemanden. Einen jungen Gelehrten namens John Frith. Wolsey hat ihn widerrechtlich einkerkern lassen. Ich glaube, er hat England verlassen, um sich Tyndale anzuschließen. Eure klügsten Köpfe leben inzwischen im Exil, Euer Majestät. Holt sie zurück. England braucht sie. Ihr braucht sie.« Da sie wusste, wie sehr er die Herausforderung liebte, fügte sie hinzu: »Natürlich nur, falls Ihr sie finden könnt.«
»Ihr könnt sicher sein, dass ich sie finden werde.«
Die Kälte und die Entschlossenheit, mit der er dies sagte, ließ sie im Innersten erschaudern.
»Aber wendet Euch keinesfalls an Sir Thomas, Mylord. Seht davon ab, in dieser Angelegenheit seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.«
Jetzt lachte er zum ersten Mal. Es erklang ein schnelles, unstetes Stakkato, das sie stets nervös machte.
»Nein. Das ist wohl kaum die richtige Aufgabe für Sir Thomas. Wenn er in der Lage wäre, William Tyndale zu finden, dann
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