Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
astrologische Rubrik in der Zeitschrift auf ihrem Schoß.
    »Ich sehe es nur zufällig hier stehen.«
    Mit kleinen bedachten Schritten kam ein ausgemergelter, aristokratisch aussehender Herr von Mitte Fünfzig in den Raum, der Kunststoffschlauch, der aus seiner Nase hing, war mit einer umgekehrten Flasche an einem hohen Rollständer verbunden, den er neben sich herführte wie ein Bischof seinen Stab. Obwohl sein Körper aussah, als sei er nur noch mit Gas gefüllt, machte der Mann nicht den Eindruck, als ob er vorhabe zu sterben, sondern eher, daß er weiß Gott Besseres zu tun habe und ihn nur der stumpfsinnige Krankenhausaufenthalt irritiere, das Krankenhaus schien ihm vermutlich eher etwas fürs gemeine Volk zu sein. Sein dunkelblauer Morgenmantel, offenbar aus Seide, war mit einer weißen Bordüre abgesetzt, und aus der Brusttasche ragte ein weißes Einstecktuch. Ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, schaltete er den Fernseher ein und setzte sich an den Nebentisch. Eine Frau in einem grellrosa Morgenmantel, die ein riesiges Pflaster à la van Gogh über dem Ohr hatte, sagte, um diese Uhrzeit würde noch nichts gesendet. Als hätte er ein Kompliment bekommen, verbeugte sich der Herr leicht, steckte unbeirrt seine Pfeife an, die in eigenartiger Weise mit seinem Schlauch kontrastierte, schlug die Beine übereinander und blickte abwartend auf den Bildschirm. Auf seine blutroten Hausschuhe waren golden heraldische Wappen gestickt.
    Max und Sophia, die mit dem Rücken zum Fernseher saßen, unterhielten sich über den Krieg und die improvisierten Zustände im Delfter Krankenhaus, als Onno plötzlich sagte: »Seid mal ruhig.«
    In einer Sondersendung war de Gaulle erschienen. Der bedrängte General, dessen kolossaler Körper eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Onnos hatte, sah direkt in die Kamera und sprach zum französischen Volk. Ungeachtet der blutigen Auseinandersetzungen der letzten Wochen, sagte er, werde er als Präsident der Republik nicht zurücktreten; er erklärte die Nationalversammlung für aufgelöst und kündigte Neuwahlen an; sollten die Unruhen anhalten, nun, dann werde hart durchgegriffen werden. Es war eine Direktübertragung ohne Untertitel, eine leise Frauenstimme lieferte eine Simultanübersetzung, aber auf niederländisch war es nicht mehr das, was es war: Frankreich, das zu den Franzosen sprach. Es schien, als ob das Französische das einzig wirklich vorhandene war: auf der einen Seite kristallisierte es zum General, auf der anderen zu den Franzosen. Vielleicht hat es damit etwas zu tun, dachte Onno, daß der Redner in seiner ganzen Monumentalität gleichzeitig etwas von einem kleinen Jungen hat, der kurz den Anzug seines Vaters anziehen darf: den des Königs von Frankreich – als ob der kleine Charles unter dem Tisch immer noch seine kurze Hose trägt und auf den nackten Knien Grind und Narben hat.
    »Genau!« sagte der Mann am Nebentisch und stand auf.
    Die Rede hatte nicht länger als fünf Minuten gedauert. Perplex sah Onno zu Max und Sophia.
    »Soll ich euch mal was sagen? Es ist vorbei. In diesem Augenblick geht das gesamte rechte Frankreich auf die Straße.
    Das Fest ist aus.«
    Max hatte die Ansprache nicht verfolgt; ihm stand der Kopf in diesem Moment weniger nach Politik denn je, und ohne Interesse hörte er Onno zu, der sagte, seiner Meinung nach sei mit diesen wenigen Sätzen eine andere Zeit angebrochen, berufsbedingt habe er einen untrüglichen Instinkt für diese Dinge: die sechziger Jahre seien zu Ende, die Phantasie der Macht entzogen, und ab heute werde es weniger lustig auf der Welt. Aber sie besäßen jetzt wenigstens eine ähnliche Erinnerung wie die vorige Generation an die zwanziger Jahre. Und es sei fraglich, ob die nächste etwas Vergleichbares haben werde.
    »Da wir gerade von der nächsten Generation sprechen«, sagte Sophia, »weißt du eigentlich noch, weshalb du hier bist?
    Du wirst Vater.«
    Mit einem Ruck kehrte Onno aus der Weltpolitik zurück in den Gesellschaftsraum. Er sah auf die Uhr.
    »Laßt uns hier verschwinden, wir können auch oben warten.«
    Ein riesiger eiserner Aufzug, der offenbar nicht für Besucher, sondern für Tragen und Särge bestimmt war, brachte sie langsam in den ersten Stock. In einem schmalen Raum neben dem OP war eine lackierte Holzbank an die Wand geschraubt, an der gegenüberliegenden Wand hing ein Plakat mit einer sonnigen griechischen Küste: tiefb laue Buchten zwischen Felsen mit Schaumrändern. Dahinter wurde Ada jetzt

Weitere Kostenlose Bücher