Die Entdeckung des Himmels
ersten Tagen nach dem Krieg auf der Straße gesehen hatte, wo sie von Männern mit Schaum vor dem Mund kahlgeschoren wurden, da sie sich mit Deutschen abgegeben hatten: »Moffenhuren« hatte die Meute geschrien, die sich bis zur Schlacht um Stalingrad mit den Deutschen sehr viel besser arrangiert hatte als diejenigen, die lebenshungrig ihren Schlüpfer ausgezogen hatten. Die rechteckige Umrahmung von Adas Gesicht war verschwunden und hatte einen runden, wehrlosen Kopf enthüllt, der erst jetzt endgültig in die Unerreichbarkeit entschwunden zu sein schien.
Um Viertel vor vier erschienen zwei Krankenschwestern, um Ada mitsamt dem Bett in den OP zu bringen. Am Abend zuvor hatte Max Onno angerufen und ihn über sein medizinisches Scheitern aufgeklärt, woraus Onno sofort gefolgert hatte, daß damit die Unsicherheit über Adas geistige Existenz geblieben sei und sie also am Leben bleiben müsse. Max drückte seine Lippen auf ihre Stirn und fragte sich, wie er sich jetzt gefühlt hätte, wenn anders entschieden worden wäre.
Auch Onno war erleichtert. Im nachhinein zweifelte er daran, ob Melchior es eigentlich wirklich so gemeint hatte, wie er es interpretiert hatte, aber er traute sich nicht, mit Max darüber zu sprechen. Vielleicht hatte er ihn eine absurde Mission ausführen lassen. Während Max und Sophia in den großen Warteraum gingen, begleitete er Ada, seine Hand auf ihrem Bauch, durch die Gänge und in dem Aufzug nach oben.
In einem Raum vor dem eigentlichen OP stand ein Mann seines Alters, der sich die Hände wusch; er trug einen grünen, kurzärmligen Kittel und auf dem Kopf eine Mütze in derselben Farbe. Onno stellte sich vor und fragte, ob er Doktor Melchior kurz sprechen könne.
»Können Sie es nicht auch mir sagen?« fragte der Mann.
»Steenwijk. Ich bin der Anästhesist.«
Erschrocken sah Onno ihn an. Er hatte eine nußfarbene Haut, die um die Augen herum dunkler war. Onno begriff, daß er nun plötzlich in der Situation war, in der er vielleicht doch noch erfahren konnte, was er wissen wollte.
»Anästhesist?« wiederholte er. »Bringen Sie meine Frau denn unter Narkose?«
»Selbstverständlich.«
»Aber ich habe Doktor Stevens so verstanden, daß sie keinen Schmerz mehr empfinden kann.«
Mit einem vagen Lächeln schüttelte Steenwijk den Kopf.
»Das hat nichts miteinander zu tun. Schmerzempfindung ist eine Sache der Gehirnrinde. Und was wir im Interesse des Kindes während der Operation vermeiden müssen, sind mögliche Reflexe aus dem Stammhirn, das ja intakt ist, wie Sie wissen; Ihre Frau atmet ja schließlich auch. Mein Gefühl sagt mir übrigens auch, daß wir es tun müssen.«
Onno sah ihn weiterhin an und nickte schließlich. Mit einem Schlag war der ganze Unsinn vom Tisch gefegt. Aber Steenwijks letzter Satz über dessen Gefühl klang noch nach: War also doch noch etwas von Ada übrig? Obwohl er sich nicht mehr so sicher war, daß Melchior tatsächlich auf Euthanasie angespielt hatte, sagte er und kam sich dabei lächerlich vor: »Sagen Sie bitte Doktor Melchior, er möge an seinen hippokratischen Eid denken und alles tun, um auch das Leben meiner Frau zu retten.«
Auch Steenwijk antwortete nicht sofort. Hatte er verstanden?
»Ich werde es ihm ausrichten, obwohl es eigentlich überflüssig sein dürfte.« Mit einem leicht melancholischen Blick sah er Onno an und sagte: »Es tut mir leid für Sie. Sie können nebenan warten.«
»Meine Begleitung sitzt unten.«
»Wie Sie möchten.«
Max und Sophia saßen in geflochtenen Gartenstühlen um einem runden Bambustisch mit Glasplatte und waren umgeben von Patienten in Morgenmänteln über gestreiften Schlafanzügen und Nachthemden, die nackten Füße in Hausschuhen. Manche spielten Karten, andere lasen Illustrierte, die wahrscheinlich schon vor Monaten oder Jahren erschienen waren, vor allem aber wurde geraucht; mit dem glückseligen Genuß von Gefangenen, die endlich kurz an die frische Luftdürfen, wurde der Rauch in die Lungen eingesogen, bis die Spitzen der Zigaretten rot glühten. Auf einem Schrank stand ein Fernseher.
Ruhig, als würde sie auf den Zug warten, blätterte auch Sophia in einer Zeitschrift; neben ihrem Stuhl stand eine Reisetasche. Max sah auf die Uhr: vier. Obwohl er äußerlich ruhig war, zitterte er vor Angst. Ihm war plötzlich, als sei die Zeit ein Hohlkegel, in dem er seit Monaten zu dem Punkt getrieben wurde, durch den er gleich hindurch mußte, und gleichzeitig war er sich bewußt, daß dieses Bild nur eine
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