Die Entlarvung
sie sehr gefährlich werden konnte, wenn sie nicht acht gab.
»Das Alter bringt es anscheinend mit sich«, sagte Richard Watson gerade, »daß man sich mehr und mehr mit der Vergangenheit beschäftigt. Ich habe das an mir selbst beobachtet. Neulich war ich ein paar Tage bei meinem Neffen in London. Er ist Anwalt … du hast ihn kennengelernt, Janey, als er im letzten Sommer zum Segeln hergekommen ist …«
»Ja, ich erinnere mich. Ein charmanter junger Mann«, fiel Janey begeistert ein.
Richard Watson lächelte. »So würde ich ihn nicht unbedingt beschreiben. Er ist ziemlich arrogant und selbstgefällig. Aber ich bin verwandt mit ihm, ergo muß ich ihn wohl so nehmen, wie er ist. Wir sind also in seinem vornehmen Club zum Essen gewesen – dort wird viel besser gekocht als in jedem Restaurant – und ich habe nur über die Zeit gesprochen, die ich als Kriegsgefangener verbracht habe. Über dieses Thema hatte ich seit Jahren kein Wort verloren, geschweige denn daran gedacht. An dem Abend aber muß ich mich stundenlang über meine Erfahrungen mit dem Lager in Deutschland ausgelassen haben. Irgendwann habe ich dann gemerkt, daß sich der arme Kerl tödlich gelangweilt hat. Ich habe meine Geschichte schnell zu Ende gebracht und das Thema gewechselt. Wie trottelig ich mir vorgekommen bin.«
»Das eigentliche Problem ist doch«, mischte sich Bob Thomas ein, »daß die jungen Leute denken, sie wüßten alles.«
»War das bei uns denn anders?« gab Richard Watson sanft zu bedenken. »Als ich achtzehn war, habe ich auf kein einziges Wort meines Vaters mehr gehört. Traurig war nur, daß wir nach meiner Rückkehr aus dem Lager nicht miteinander sprechen konnten. Natürlich haben sich meine Eltern gefreut, mich wiederzusehen – meine Mutter hat geweint und ist in die Küche gelaufen, um Tee zu machen; mein alter Vater hat den Arm um mich gelegt und hat sich dann schnell um mein Gepäck gekümmert. Sie wußten nur nicht, was sie zu mir sagen sollten.«
Julia entschied, daß der rechte Zeitpunkt gekommen war. »Hat Sie das Ganze sehr belastet? Es muß bestimmt schwierig gewesen sein, sich wieder an das normale Alltagsleben zu gewöhnen.«
»Einfach war es nicht«, stimmte er zu. »Ich bin als Fremder nach Hause zurückgekehrt. Fremd nicht nur für meine Eltern, sondern auch für mich selbst. Ich begriff nicht, was der Freiheitsentzug mir angetan hatte. Ich konnte nichts selber in die Hand nehmen, hatte verlernt, Entscheidungen zu treffen. Wenn mir morgens jemand die Socken hingelegt hätte, hätte ich mir selbst meine Kleidung nicht mehr allein ausgesucht.«
»Wie lange hat dieser Zustand angedauert?« Julia lehnte sich nahe an ihn heran, um seine volle Aufmerksamkeit zu erringen.
»Ein paar Jahre. Ich habe es mit verschiedenen Jobs versucht, habe es aber nirgendwo lange ausgehalten. Ich litt an Depressionen, wie viele meiner ehemaligen Mitgefangenen. Bis ich eine Trainee-Stelle bei ICI bekommen habe. Die Aufgabe hat mich erst interessiert, dann fasziniert. Von da an ging es bergauf mit mir.«
Julia atmete tief durch. Jetzt.
»Ich habe Ihr Buch gelesen«, verkündete sie. »Einer meiner Freunde, der den letzten Krieg ebenfalls miterlebt hat, hat es mir zu lesen gegeben. Es hat mich wirklich beeindruckt. Haben Sie es verfaßt, während Sie interniert waren?«
»Ja«, erwiderte Richard Watson. »Es war so trostlos, so grau, so erbärmlich kalt mitten im Winter … Wir hatten nie genug zu essen. Die anderen haben ihre Zeit damit verbracht, Fluchtpläne zu schmieden und Schach oder Bridge zu spielen. Ich habe meine eher unbedeutenden Kriegserinnerungen aufgeschrieben. Ich kann es kaum glauben, daß Sie sie interessant fanden, fühle mich aber sehr geschmeichelt.«
Er lächelte ihr zu.
»Ein Buch?« dröhnte Bob Thomas. »Was höre ich da, Dick – hast du etwa Geheimnisse vor uns?«
»Das Ganze liegt doch schon Jahre zurück – lange bevor ich hierhergekommen bin«, rechtfertigte sich Richard Watson. »Ich habe ein paar Exemplare privat drucken lassen. Hätte nie gedacht, daß sie irgendwo zirkulieren. Ich wollte mir die Geschichte einfach nur von der Seele schreiben, das ist alles.«
»Stille Wasser gründen tief«, rief Bob Thomas. »Sie nehmen sich besser in acht, Julia. Dick wird Ihnen sonst noch zum gefährlichen Konkurrenten … Ich würde das Buch gern mal lesen. Du hast dir doch sicher ein Exemplar des großartigen Werkes aufgehoben, nicht wahr, Dick? In der Armee habe ich die beste Zeit meines
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