Die Entlarvung
»Wir haben uns einen Kaffee verdient«, verkündete sie. Sie kam mit zwei Plastikbechern zurück, die sie aus dem Automaten im Flur gezogen hatte.
Sie reichte Tina einen der Becher und sagte: »Ich habe den Kaffee gesüßt. Sie stehen unter Schock, Zucker soll da helfen. Wer ist dieser Joe Patrick, Ihr Zuhälter?«
»Nein.« Tina schüttelte den Kopf. »So etwas hat er nicht nötig. Er ist Geschäftsmann, ziemlich gut betucht. Wir sind ihm vor einem Jahr im Caribbean Club über den Weg gelaufen. Er mag Farbige, ist ganz versessen auf sie. Wir wohnen bei ihm. Manchmal muß ich die Sekretärin für ihn spielen. Es ist nicht das erste Mal, daß er uns geschlagen hat. Wir sind eigentlich daran gewöhnt. Nur diesmal war es anders. Er war wie rasend, voller Aggressionen, die er ablassen mußte. Ich dachte, er schlägt Tracey tot.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und verzog schmerzhaft das Gesicht.
»Warum gerade Tracey – und nicht Sie? Hat sie ihn irgendwie provoziert?«
»Um Gottes willen, nein. Dazu ist sie viel zu ängstlich. Sie furchtet sich vor ihm. Nein, sie hatte das Armband an, das er mir geschenkt hat. Dieses verdammte Armband … sie hatte es sich nur kurz geliehen, weil sie es schön fand. Er ist total ausgerastet, hat geschrien und wild um sich geschlagen. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten. Da hat er mir die Faust ins Gesicht gerammt und mich getreten. Ich habe nur noch am Boden gelegen und zugesehen … Ich dachte wirklich, daß Tracey tot ist. Schließlich ist er gegangen. Hat die Tür hinter sich zugeknallt, und weg war er.«
»Und Sie haben sie dann auf die Straße in ein Taxi geschleift«, ergänzte Mandy Kent.
»Ich habe dem Fahrer gesagt, jemand hätte uns überfallen«, murmelte Tina. »Irgendwie mußte ich sie ja ins Krankenhaus bekommen.«
»Und all das nur, weil sie Ihr Armband getragen hat«, wiederholte Mandy. »Weshalb, Tina? Ist es so wertvoll?«
»Nein, uns hat er immer nur billigen Trödel gegeben.«
Sie wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab.
»Ich habe Ihnen alles erzählt, mehr können Sie nicht von mir verlangen«, sagte sie. »Ich werde nicht gegen ihn aussagen, vor Gericht nicht und nirgendwo sonst. Er würde mich eiskalt umbringen – oder umbringen lassen –, sollte ich ihn verpfeifen.«
Mandy hatte nichts anderes erwartet. Mädchen wie Tina und Tracey würde das Gesetz nie ausreichend beschützen können. Sie würden stets den Regeln der Unterwelt unterworfen sein – einer Welt, in der die Zusammenarbeit mit der Polizei schwerer wog als ein Mord und in der es nur ein Gesetz gab: Der Stärkere gewinnt. »Vielleicht zeigt Tracey ihn ja an«, sagte Mandy ohne rechte Überzeugung. »Wenn Sie überhaupt das Bewußtsein wiedererlangt. Wenn sie stirbt, handelt es sich um Mord. Davor können Sie nicht so einfach davonlaufen, Tina.«
»Sie würde auch nicht gegen ihn aussagen«, entgegnete Tina langsam. »Ich möchte jetzt nach Hause. Morgen komme ich wieder und besuche Trace.«
»Sie gehen doch nicht zu ihm zurück, oder? Davor kann ich Sie nur warnen.«
»Ich fahre zu einer Freundin. Für ein oder zwei Tage. Dann wird sich der Kerl ja wohl beruhigt haben. Ich kümmere mich um Trace … Danke für den Kaffee.«
»Wenn er Sie getreten hat, sollten Sie sich vielleicht kurz dem Arzt vorstellen.«
»Ich bin in Ordnung. Ein bißchen wund, das ist alles. Ich mach' das nicht zum ersten Mal mit.«
»Ich rufe Ihnen einen Streifenwagen. Die Beamten fahren Sie, wohin immer Sie möchten. Melden Sie sich, Tina. Ich stehe auf Ihrer Seite.«
»Unsinn«, erwiderte Tina barsch. »Niemand ist auf meiner Seite, niemand außer mir ganz allein.«
Mandy Kent begleitete sie bis zum Streifenwagen. Sie fühlte sich erschöpft und wütend zugleich. Sie würde Joe Patrick durch den Computer jagen lassen. Er mochte sich als Geschäftsmann ausgeben – sie jedoch vermutete in ihm einen charakterlosen Verbrecher und ehemaligen Zuhälter.
Nicht, daß sie sich Hoffnungen machte, ihn je vor Gericht zu bringen. Beide Mädchen hatten Angst, öffentlich gegen ihn auszusagen. Sie konnte ihnen keine Vorwürfe machen, fand es jedoch entmutigend und frustrierend, daß ein so brutales Verbrechen wieder einmal ungestraft bleiben sollte. Sie ging hinauf zur Krankenstation.
Nach einer Weile kam der diensthabende Arzt heraus, um mit ihr zu sprechen.
»Wie geht es ihr?« erkundigte sich Mandy.
»Sie ist immer noch ohne Bewußtsein. Zu ihrem Glück ist die Schädeldecke unverletzt. Aber ihr
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