Die Entlarvung
ihn gesehen habe. War eine gute Idee von Ihnen. Es ist nicht möglich, daß ich Ihre Akte vielleicht heute noch lese, oder?« Erneut entstand eine kleine Pause.
»Ich könnte in einer halben Stunde bei Ihnen sein. Wo ist Ihr Liebhaber?«
»Er ist nicht hier«, gestand Julia. »Wir hatten einen Streit.«
»Freut mich zu hören.« Harris klang lakonisch. »Ich habe nie viel von ihm gehalten. Am besten, Sie nehmen ihn nie wieder bei sich auf.«
»Habe ich auch nicht vor«, entgegnete Julia langsam. »Können Sie die Akte wirklich vorbeibringen? Heute nacht kann ich sowieso nicht schlafen, und ich würde mir gerne die Unterlagen vornehmen.«
»Bis gleich«, sagte er und legte auf.
Sie öffnete ihm die Wohnungstür. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Das ist sehr nett von Ihnen.«
»Keine Ursache.« Er sah sich in ihrem Wohnzimmer um. »Schön haben Sie es hier. Sind Sie die Kunstliebhaberin?«
»Ja. Ich hätte gerne noch ein paar abstrakte Bilder, aber sie sind einfach zu teuer. Setzen Sie sich doch. Ich habe frischen Kaffee gekocht.«
»Könnte ich vielleicht einen Tee bekommen?«
»Selbstverständlich. Dauert nur eine Minute. Ist ein Teebeutel in Ordnung?«
»Ich nehme selbst nichts anderes«, rief er ihr nach. Der Raum war sehr behaglich. Er mochte die Bilder. Sie verliehen dem Ganzen eine farbenfrohe, originelle Atmosphäre – wie die Besitzerin selbst. Er öffnete die Akte und blätterte sie durch. Julia kam mit zwei Tassen Tee zurück, was er sehr nett fand. »Bevor ich Ihnen meine Unterlagen überlasse, muß ich Sie noch einmal fragen: Wollen Sie diese Untersuchung wirklich übernehmen?«
»Zum letzten Mal – ja«, erwiderte sie. »Und darf ich Sie auch etwas fragen? Sie werden mir helfen, oder?«
»Ich würde Ihnen das Material nicht geben, wenn nicht. Obwohl ich mich gegen mein besseres Wissen darauf einlasse. Unter einer Bedingung allerdings. Und keine Diskussionen.« Er sah sie eigensinnig an. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Er würde keinen Zentimeter von seinem Vorsatz abweichen, worum immer es sich auch handeln mochte.
»Was für eine Bedingung?« erkundigte sie sich.
»Sie müssen sich zurückziehen und die Sache mir überlassen, wenn ich es Ihnen sage. Ansonsten, J., bin ich weder bereit, Ihnen zu helfen, noch Ihnen die Akte zu übergeben. Und glauben Sie nicht, daß Sie mir etwas versprechen können, was Sie hinterher nicht halten.«
Julia zögerte. »Warum sollte ich mich zurückziehen?«
»Sollen Sie ja nicht«, versicherte er. »Nur im äußersten Notfall, wenn es wirklich gefährlich wird. Was allerdings anzunehmen ist. Insbesondere, wenn wir tatsächlich etwas herausfinden. Wollen Sie es sich noch einmal überlegen?« Er hatte die Akte wieder geschlossen und sie sich unter den Arm geklemmt. Er meinte es also ernst.
»Nein, Sie haben gewonnen. Ich brauche die Akte, und ich brauche Sie, Ben. Ich bin mit Ihrer Bedingung einverstanden. Western würde sie nicht gefallen, aber er muß davon ja nichts wissen.«
»Je weniger andere von nun an wissen, desto besser.« Er trank seinen Tee aus. »Sie wollen sich von Sutton trennen? Und lassen sich nicht wieder bereden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Die Beziehung tut uns beiden nicht mehr gut. Urteilen Sie nicht zu hart über ihn, Ben. Es ist nicht nur seine Schuld.«
»Er ist Ihnen nicht gewachsen«, bemerkte Ben Harris. »Sie sind zu clever, zu erfolgreich – haben einfach zu viel von allem. Sie haben nicht mit ihm über den Fall gesprochen, oder?«
»Nein, ich habe ihm nur gesagt, daß wir uns eventuell mit der Vergabe von Adelstiteln näher beschäftigen wollen. Mehr weiß er nicht.«
»Gut. Ich gehe jetzt, J. Lesen Sie sich die Akte durch. Morgen können wir dann nach der Arbeit darüber sprechen. Vielen Dank für den Tee. Ich finde allein hinaus.«
Die Informationen in der Akte setzten 1949 ein, als eine verschleppte Person aus dem UNRRA-Wiedereingliederungszentrum in Nessenberg entlassen wurde. In dem Lager befanden sich damals Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern – menschliches Strandgut, das der Krieg angespült hatte. Menschen ohne Papiere, Identitäten, Nationalitäten. Der junge Mann, der sich Hans König nannte, war ein typisches Opfer des allgemeinen Chaos und Zusammenbruchs. Er hatte keinerlei Papiere und behauptete, daß er 1939 aus dem polnischen Grenzgebiet verschleppt worden sei, um als Zwangsarbeiter eingesetzt zu werden. Angeblich konnte er sich aber weder an seinen Namen und seinen
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