Die Entlarvung
Geburtsort erinnern noch wußte er, was aus seiner Familie geworden war. Er hielt es für wahrscheinlich, daß man sie erschossen hatte. Er selbst war so gequält und mißhandelt worden, daß er sich an nichts erinnerte. Sein Schicksal war kein Einzelfall. Jugendliche und Kinder wurden verhaftet, abtransportiert, eingedeutscht, wenn es sich um arische Typen handelte, oder als Arbeiter in Fabriken und Bauernhöfen eingesetzt. Mädchen wurden als Hilfskräfte in die Haushalte geschickt. Hans König behauptete hartnäckig, daß er nicht wisse, wer er sei und woher er gekommen war. Er war in einer Flüchtlingskolonne aufgegriffen worden, die vor den näher kommenden Alliierten das Weite gesucht hatte. Die medizinischen Berichte besagten, daß König unter einem akuten psychischen Trauma gelitten habe. In dem Auffanglager hatte er alles in allem vier Jahre zugebracht.
Unter den vielen Menschen, die die UNRRA, das Militär und die zivilen Behörden in der britischen Zone als heimat- und staatenlos registrierten, war Hans König nur eine weitere Nummer.
Unter den unschuldigen Opfern verbargen sich auch eine Reihe schuldiger Kriegsverbrecher – Deserteure, SS-Angehörige, Lageraufseher aus der Ukraine und dem Balkan –, die auf diese Weise versuchten, ihrer Strafe zu entgehen. Die SS-Mitglieder konnten dabei noch am leichtesten identifiziert werden, da ihnen unter der Achsel eine Nummer eintätowiert war. Viele jedoch hatten sich die Signatur weggebrannt oder weggeschnitten, um nicht entdeckt zu werden. In Königs Unterlagen gab es keinen Hinweis auf irgendeine Kriegsschuld. Er war ein staatenloser junger Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft.
Langsam arbeitete sich Julia durch alle Fotokopien der frühen Dokumente hindurch. Die Folgen des schrecklichen Krieges waren ihr auf einmal sehr präsent. Sie fühlte sich betroffen wie nie zuvor. Vergangenes Elend, Hoffnungslosigkeit und immer wieder das Böse schlugen ihr aus den Seiten entgegen, in denen die einzigen Fakten zu der Herkunft des Mannes dokumentiert waren, dem sie vor ein paar Stunden begegnet war. Der Kaffee neben ihr war kalt geworden. Sie sah auf ihre Uhr. Es war bereits Viertel vor drei.
»Niemand hat je seine Nationalität herausgefunden. Er behauptet, daß er wahrscheinlich polnischer Herkunft ist … aber er spricht fließend Deutsch … Was ist er also?«
So hatte Ben Harald King beschrieben. Den Namen, den der Verschleppte sich im Lager gegeben hatte, hatte er inzwischen anglikanisiert. König. King. Hatte er mit dem Namen andeuten wollen, was später einmal aus ihm werden sollte …? Sie begann erneut zu lesen. King war aus dem Lager in die Hände eines UNRRA-Angehörigen entlassen worden, der für ihn gebürgt und provisorische Papiere für ihn bei der britischen Kontrollkommission in München besorgt hatte. Auf der Kopie der Papiere waren verblaßte Unterschriften zu erkennen: Ein Major Grant hatte für die Kontrollbehörde unterschrieben und eine Phyllis Lowe für die UNRRA.
Also hatte eine Frau Hans König aus dem Lager geholt. Der Rest der Unterlagen bestand aus Bens eigenen, sehr sorgfältig und genau durchgeführten Nachforschungen zu dem, was sich danach ereignet hatte. Phyllis Lowe hatte noch eine Weile für die Vereinten Nationen gearbeitet und sich um die Flüchtlinge gekümmert. Sie hatte eine Wohnung in Nessenberg, in die sie den jungen Hans König aufnahm. Sie engagierte einen Lehrer, der ihm Englisch beibringen sollte – einen deutschen Zivilisten, der wegen seines Klumpfußes nicht eingezogen worden war.
Nach sechs Monaten hatte Phyllis Lowe ihre Arbeit aufgegeben und war mit Hans König nach England zurückgekehrt.
Und an diesem Punkt war Ben Harris in eine Sackgasse geraten. Es gab weder offizielle noch inoffizielle Dokumente. Niemand in Nessenberg kannte heute noch Phyllis Lowe oder erinnerte sich an den jungen Mann. Der Lehrer war 1953 gestorben, und seine Familie hatte die Gegend verlassen. Die UNRRA selbst war einige Jahre nach Kriegsende aufgelöst worden.
Phyllis Lowe war mit ihrem Schützling nach England gegangen. Aus. Ende. Alle weiteren Informationen von den 50er Jahren an stammten von Harold King selbst. Ben hatte seiner Akte Kapitel aus der Biographie beigefügt, die King in einem seiner Verlage hatte drucken lassen. Der Ghostwriter hatte bewegende Passagen über das Leben im Lager und über die edle englische Retterin zusammengeschrieben. Phyllis Lowe wurde als gutherzige Junggesellin geschildert, die King
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