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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Christo
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Blanche seufzte und kontrollierte ihre Waffen, doch an Ruhe war nicht zu denken. Die beiden Streithähne befanden sich nun in einem Nebenraum, der Bibliothek, deren Tür angelehnt war. Cams Stimme überschlug sich, doch Blanche konnte neben der Wut den Schmerz heraushören.
    „… warum geht es immer nur um sie? Haben dir unsere gemeinsamen Jahre nichts bedeutet?“
    Oh nein, bitte kein Liebesdrama am Morgen – oder Nachmittag. Wie auch immer, sie musste hier raus, diese Nummer brauchte sie so dringend wie einen Knieschuss. Sie öffnete die Tür zum Flur und wäre beinahe in Ernesto gerannt.
    „Solltest du nicht bei Nella sein?“, fragte sie, um von ihrer zerknitterten Erscheinung abzulenken.
    „Tutto bene, sie ist mit dem Chef unterwegs. Ich soll ein Auge auf dich haben und dich fahren, falls du irgendwohin willst.“
    Ihre Brauen zogen sich zusammen. „Hast du was ausgefressen?“
    Darauf grinste Ernesto und schüttelte den Kopf. „Der Befehl kam von Nella.“
    Seit wann gab Nella Befehle?
    „Nichts für ungut, Ernie, aber ich schätze meine Privatsphäre“, sagte sie, und spazierte an ihm vorbei Richtung Treppenaufgang.
    „He, Blanche, du kannst noch nicht gehen!“
    „Sieh gut hin“, bemerkte sie und drückte den Summer, der die gepanzerte Tür öffnete.
    „Das meine ich nicht“, rief Ernesto, der ihr hinterherjoggte. „Nella hat etwas, dass sie dir geben möchte.“
    Oh, oh. Nicht gut. Das letzte Mal hatte sie versucht, ihr eine Lilie zu schenken, auf die sie aufpassen sollte. Blanche hatte das Gestrüpp Enzos verzogenem Sohn untergeschoben. Pflanzen und sie konnten nicht gut miteinander, zumindest nicht, solange sie täglich umzog. Vermutlich hatte Klein Enzo unterm Dach heimlich ein Gewächshaus eingerichtet, mit einem Dutzend Lilien, falls sie unangekündigt vorbeikam, um nach der Blume zu sehen.
    „Enzo hat meine Nummer. Wenn sie zurückkommen, soll sie mich anrufen“, rief sie über die Schulter, und trat aus dem Sicherheitsbereich, bevor sich die achtzehn Zentimeter dicke Tür hinter ihr schloss.
    Es war nicht zwingend notwendig, dass sie noch einmal in ihr Hotel ging. Sie besaß nicht viel, und auf das Wenige konnte sie gut verzichten. Wenn sie allerdings an das zerlesene Taschenbuch dachte und an die Puzzles, die Nella in den letzten Wochen angeschleppt hatte, verspürte sie einen wehmütigen Stich, das Zeug in der Bahnhofskaschemme zurückzulassen. Also nahm sie den Hinterausgang und stieg am Place de Clichy in die Metro der Linie Zwei, wechselte an der Pigalle in die Nummer Zwölf, und stieg bei Maecadet in die Vier, die sie zum Nordbahnhof brachte. Der Zickzack-Kurs war Absicht, um unerwünschte Besucher abzuschütteln, doch erfreulicherweise war heute niemand hinter ihr her. Leider wurde durch die Umsteigerei aus einer dreißigminütigen Fahrt eine gute Stunde, sodass sie erst nach fünf im Gare du Nord ausstieg. Dort besorgte sie sich ofenfrische Croissants sowie einen Latte zum Mitnehmen, und machte sich auf den Weg in die Rue des Deux Gares. Kaum war die Tür ihres Zimmers hinter ihr zugefallen, schnallte sie die Waffen ab, zog sich aus und nahm eine brüllend heiße Dusche. Sie fühlte sich wie ausgekotzt und musste das nagende Gefühl der Leere loswerden. Das Loch in ihrer Brust, das sich wie ein Krebsgeschwür in ihr ausbreitete und sie bei lebendigem Leibe auffraß. War sie wieder bei ihrem Zombie-Dasein angekommen?
    Blanche ließ sich Zeit. Sorgfältig wusch sie ihr Haar und ließ den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren.
    Eigentlich müsste sie sich besser fühlen, jetzt, da Andrej wieder in ihr Leben getreten war. Tatsächlich tat es gut, ihn zu sehen, aber zehn Jahre waren keine Kleinigkeit. Obwohl sie seit einigen Wochen wusste, dass er noch lebte, war es ein Schock gewesen, ihn live und in Farbe zu sehen. Zwar ähnelte er noch dem Jungen von damals, aber wie es aussah, würden sie sich noch einmal neu kennenlernen müssen.
    Im Heim waren Cam und sie unzertrennlich gewesen, und was war ihnen nach all den Jahren geblieben? Neid und Missgunst – was für eine gigantische Zeitverschwendung. Andrej schien noch der Alte zu sein, aber was wusste sie schon?
    Ihren Vorbehalten zum Trotz tat der Gedanke gut, ihren alten Freund an der Seite zu wissen, einen Neuanfang zu wagen, und wieder so etwas wie eine Perspektive zu haben.
    Und endlich ließ der Druck in ihrer Brust ein wenig nach. Sie rieb sich die Stelle über dem Herzen, wie um den Schmerz zu vertreiben. Als sie

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