Die Entscheidung liegt bei dir!
»Vorbildern«. Während einerseits Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Unternehmergeist gefordert werden, heißt es andererseits: »Wir brauchen wieder Vorbilder!« Überall werden – häufig mit den besten Absichten – Modelle von Tugend, Moral und Werten öffentlich gefordert und gegen gesellschaftlichen Werteverfall und wirtschaftliche Schieflagen aufgeboten. Passt das zusammen? Ist das möglich?
Eine vom Ideal der Vorbilder (gleich welcher Art) geprägte Kultur unterscheidet zwischen denen, die nachahmenswerte Eigenschaften aufweisen, und jenen, die sich diese aneignen sollen. Das heißt im Klartext: Es gibt ganz offensichtlich viele Menschen, die ein Vorbild zum Nacheifern brauchen oder denen man ein Vorbild meint geben zu müssen. Die Rede vom Vorbild disqualifiziert mithin einen Teil der Gesellschaft (den größten!) als eines Vorbilds bedürftig.
|141| Psychologisch richtet sich das Vorbild einer gütigen Elternrolle an das angepasste Kind in uns. (Im Privaten ist man so oft genau das geworden, was man am wenigsten sein wollte: das Abbild der Eltern.) Das Vorbild-Denken kommt schließlich auch aus dem Erziehungskontext – aus der Erziehung unmündiger Kinder. In einem Ratgeber für Führungskräfte, der mehrere Auflagen erlebte, steht zu lesen: »Ein guter Chef brüllt nicht bei jeder Gelegenheit seine Mitarbeiter an, sondern erzieht durch Vorbild.« Da ist es, das Erziehungsdenken: »Unmündige Kinder« sollen »erzogen« werden. Sie sollen lernen, ihr Handeln nach Werten auszurichten, die andere für sie festgesetzt haben, nach Maßstäben, die andere für sie aufstellten. Das Modell-Lernen im Eltern-Kind-Verhältnis wird gleichsam »verlängert«.
Die gleiche psychologische Mechanik – wenngleich nicht so auffällig – wirkt bei der weit verbreiteten Wendung des ehemals
be-
schreibenden »man« in ein
vor-
schreibendes »man«. »Wie kann man nur …?« Was einst zusammenfassend und beobachtend galt, wird nun zur Soll-Vorschrift, zum Gebot. Der sogenannte gesunde Menschenverstand erhält die Weihen des Evangeliums. Das Allgemeine wird das Vorbildliche. Unter der Hand schmuggelt dabei der »Wie kann man nur?«-Ankläger seine eigenen Interessen ein und erklärt sie unter der Tarnkappe allgemeingültiger Normen für vorbildlich und verbindlich. Mit welchem Recht?
Nun reifen viele kalendarisch erwachsene Menschen niemals über das Stadium des Nachmachens hinaus. Mit einem Vorbild an der Hand besteht ja auch keine Notwendigkeit, mühevoll herauszufinden, was ich selbst eigentlich denke. Kein Abwägen von Vor- und Nachteilen, keine Rechtfertigung des Inhalts, der Ziele oder der Überzeugung ist hier nötig. Nur die Empfehlung zur Imitation. »Sollten Sie in diesem Unternehmen |142| aufsteigen wollen, Herr Schmidtchen, dann machen Sie es wie Herr Schmidt!« »Wenn du wirklich dein Singledasein beenden willst, dann kauf dir erst mal ein paar italienische Designerklamotten!« »Wenn du als Unternehmensberater eine Chance haben willst, darfst du das Telefon nicht selbst abnehmen, dann brauchst du eine Sekretärin!« »Geh mal auf dieses Seminar, da lernst du alles, was du brauchst, um im Job erfolgreich zu sein.« Wenn wir tun, was andere auch tun, haben wir das Gefühl, mindestens nicht falsch zu liegen. Das zu machen, was andere vormachen, verleiht Sicherheit. Es ist aber wieder die Sicherheit des Kindes. So sind viele Junggebliebene einfach nur stehen geblieben.
Wenn wir einen vorgegebenen Kanon des Vorbildlichen anerkennen, dann lassen wir zu, dass mit uns wie mit Kindern umgegangen wird. Und wenn wir selbst jemanden zum Vorbild küren, infantilisieren wir uns selbst, stufen wir uns selbst zu Halbwüchsigen zurück, geben wir unser Erwachsensein ab. Die Betonung des Vorbildlichen ist das Kainsmal der Unreife.
Zweite Sieger
Um der Frage »Woher kommt unsere Energie?« auf den Grund zu gehen, setzen wir uns noch etwas intensiver mit dem Vorbild-Handeln auseinander. Das Vorbild bezieht seine Existenzberechtigung wesentlich aus der Schwäche seiner Hinterherläufer (sehr schön dargestellt von Tom Hanks in
Forrest Gump
). Denn die Größe des einen besteht darin, dass der andere ihm seine Kleinheit als Geschenk darbringt. Das Vorbildliche des einen reicht nicht; der andere muss ihm erst |143| seine Mangelhaftigkeit zu Füßen legen, damit das Vorbild sichtbar wird. Manche erscheinen nur deshalb so groß, weil die anderen sich ducken.
Der Schweizer Lyriker und Erzähler Robert Walser schreibt:
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