Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
versammelt hatten. Um ihn herum fand offensichtlich so etwas wie ein Fest statt, denn unzählige Menschen vergnügten sich bei Spielen, Speisen und Getränken. Ein Mann in dunklem Umhang und tief ins Gesicht gezogener Kapuze saß mit den Kindern am Feuer und schien eine Geschichte zu erzählen. Auch Charlie lauschte interessiert, während er wortlos den seltsamen Mann betrachtete.
Dieser Tagtraum war intensiver und deutlicher als der erste gewesen. Hanna hatte tatsächlich das Gefühl gehabt, selbst dabei gewesen zu sein. Das Erlebnis wühlte sie auf, und sie hatte einige Zeit gebraucht, um sich zu beruhigen.
Eine Erklärung hatte sie nicht. Der dritte Tagtraum war nur sehr kurz gewesen. Sie selbst saß dabei hoch auf einem Baum und blickte über einen Wald. Es war Nacht. Unter ihr, an einer Scheune, saßen Charlie, Kunar und ein fremder Mann. Dann wachte sie plötzlich auf.
Und nun war es wieder passiert. Auch dieses Mal hatte Hanna das Gefühl, ein Teil der Geschichte zu sein. Doch im Nachhinein kam es ihr vor, als hätte sie das Ganze mit Toras Augen gesehen! Sie schauderte.
Das war doch verrückt! Bekam ihr die Dunkelheit Asgârds nicht? War es die Gefangenschaft, die sie belastete, oder wuchsen ihr ihre Pflichten so langsam über den Kopf?
Zugegeben, sie hatte viel zu tun und schlief wenig. Eine Folge der Aufgabe, die ihr gestellt worden war. Fullas Aufgabe.
»Zeige den Menschen hier, was Freiheit bedeutet.«
Hanna war der Aufforderung nachgekommen und hatte bereits einiges erreicht. Dass es mit Aufwand verbunden war, ließ sich nun mal nicht vermeiden.
Waren die Aussetzer mitten am Tag die Folge von zu wenig Schlaf?
Durchaus möglich, aber irgendwie zweifelte Hanna an dieser Erklärung. Sie seufzte und zwang sich, an ihre Arbeit zu denken. Sie wollte so schnell wie möglich fertig werden, denn heute war Vollmond. Heute würden sie und Aslak wieder einmal auf die Suche gehen.
Drei Vollmondnächte waren seit Alvablotet bereits verstrichen. Heute war der vierte Monat vorüber, zum vierten Mal seit ihrem Besuch im Gnipahâl würde sie nachts durch Asgârd schleichen, auf der Suche nach dem zweiten Garm, oder besser gesagt, auf der Suche nach dem, was der Garm bewachte. Leider hatten zwei ihrer Versuche geendet, bevor sie überhaupt angefangen hatten. Und beim dritten Versuch hatte sie nichts gefunden.
Als Hanna aus Odens Gemächern trat, stieß sie fast mit Byleist zusammen.
»Oh! Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, murmelte sie hastig und senkte den Kopf. Byleist trat einen Schritt zurück und betrachtete Hanna wohlwollend von oben bis unten. Sie war es gewohnt. Die Männer Asgârds sahen ihr gerne einmal nach, besonders nachdem sie auf ihrem Fluchtversuch mitten auf ihrem Übungsinnenhof Valhall gelandet war.
»Es wäre mir eine Freude, mit einem so hübschen Mädchen zusammenzustoßen!«, grinste Byleist. Hanna überhörte seine Worte absichtlich und wollte sich gerade entfernen, als sie es sah! Um seinen dicken Hals baumelte ein Phoenixstein.
Ihr Phoenixstein! Biarns Geschenk!
Sie starrte auf Byleists behaarte Brust, die unter seinem Hemd hervorquoll. Er deutete ihren Blick falsch. Er reckte sich und schob seinen kräftigen Brustkorb noch weiter vor.
»Ja, sieh es dir genau an, Kleines! So ein Mannsbild bekommst du nicht jeden Tag zu sehen!«
Stolz trommelte er sich mit der Faust auf die Brust.
»Willst du mal fühlen?«
Hanna hatte keine Angst. Niemand würde es wagen, sie anzufassen, denn sie alle fürchteten Ods Zorn. Mehr als anzügliche Bemerkungen erlaubten sich die Bärsärker nicht.
Doch auch Hanna musste aufpassen, nicht unhöflich zu sein. Das konnte zu Strafen führen. Niemand durfte sich gegen einen Bärsärker stellen. Uneingeschränkter Gehorsam und Pflichterfüllung wurden von Asgârds Sklaven erwartet.
Hanna riss sich vom Anblick ihres Steins los und sagte so unterwürfig wie möglich:
»Nichts würde ich lieber tun, Bärsärker Asgârds! Solch eine Kraft! Und welch schöner Stein ziert diese männliche Haarpracht!«
»Ein Geschenk des Allvaters«, antwortete Byleist geschmeichelt. »Auch er weiß mich und meine Kräfte zu würdigen!«
Hanna nickte mit gespielter Ehrfurcht.
»Da bin ich ganz sicher, Bärsärker Asgârds.«
Sie kochte innerlich.
Ihr Stein! Wie konnte Oden diesem gehirnamputierten Ochsen nur ihren geliebten Stein schenken! Sie musste schnellstens hier weg, bevor sie die Fassung verlor.
»Wie gerne würde ich hier mit dir verweilen«, säuselte Hanna
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