Die Erben der Nacht - Pyras
bereits wusste, war der Anblick der leeren Loge fast ein Schock. Ihr Herz schmerzte, als wolle es jeden Moment aufhören zu schlagen. Sie trat an die Brüstung vor und sah sich in der Loge um, so als hoffte sie, er würde sich in einem Winkel verbergen. Ihre Knie gaben nach und sie sank auf einen der Stühle. War es der, auf dem Malcolm gesessen hatte?
»Miss Latona, kann ich etwas für Sie tun? Möchten Sie eine Limonade oder ein Eis?«
Latona schüttelte den Kopf. »Nein, danke, lassen Sie mich bitte
allein.« Ihre eigene Stimme klang wie aus weiter Ferne. Sie hörte nicht, was er ihr antwortete, doch sie spürte, dass er die Loge verließ. Latona, die bis dahin mit steifem Rücken dagesessen hatte, sackte zusammen. Sie stützte die Ellenbogen auf die Brüstung und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Niemand sollte ihre Tränen sehen.
Ein wenig wunderte sie sich über sich selbst, wie tief die Verzweiflung sie erfasste. Hatte sie nicht die ganzen Monate über in Persien und auf der langen Reise zurück gut ohne Malcolm gelebt? Warum nur traf es sie nun so heftig?
Vielleicht hatte sie es ertragen können, ihn weit und für immer verloren zu wissen, doch nun, da er zum Greifen nah war, konnte sie nicht mehr auf ihn verzichten.
Nein? Du wirst es müssen oder willst du hier in einer Opernloge mit gebrochenem Herzen sterben?, flüsterte eine gehässige Stimme in ihrem Innern.
Sie fühlte die tränennasse Bahnen über ihre Wange ziehen, aber sie gab keinen Laut von sich. Nur ihre Schultern bebten.
»Verzeiht, wenn ich mich zurückziehe«, sagte Erik und verneigte sich kurz in Richtung seiner Gäste. Und schon war er verschwunden. Für einen Menschen bewegte er sich unglaublich geschmeidig und lautlos! Ivy stimmte Alisa zu, die es laut aussprach.
»Was ist mit ihm?«, wollte Luciano wissen, der den Blick erst von der Bühne abwandte, als der Vorhang fiel.
»Ich vermute, es ist ihm unangenehm, entdeckt zu werden«, meinte Ivy. »So zieht er sich lieber eine Weile zurück. Vielleicht schließt er sich uns bei einem der nächsten Akte wieder an.«
»Entdeckt? Wer hat uns entdeckt?«, fragte Luciano und sah sich verwirrt um.
Franz Leopold schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Unser Dickerchen hier ist mal wieder der Einzige, der nichts mitbekommen hat. Ich frage mich, wie die Nosferas bis heute überleben konnten, so blind und taub wie sie sind.«
»Das Mädchen dort unten hat nach Malcolm gerufen!«, sagte Anna
Christina, die diese Tatsache offensichtlich noch immer nicht fassen konnte. »Sie hat zu uns heraufgesehen und seinen Namen gerufen!«
Luciano drehte sich mit interessierter Miene zu dem Platz um, auf dem Malcolm gesessen hatte, der nun jedoch ebenfalls leer war. »Wo ist er hin?«
»Das würde ich auch gern wissen«, meinte Alisa. »Er wird sich doch nicht etwa mit dieser Vampirjägerin treffen wollen? Seht, sie verlässt mit ihrem Begleiter den Saal.«
Ivy hob die Schultern, obwohl sie genau das vermutete. Sie hatte für einen Moment in Malcolms Geist geblickt, und die Leidenschaft, die sie dort gespürt hatte, beunruhigte sie. Sein Verlangen konnte dem Vyrad gefährlich werden. Ivy zögerte. Sollte sie den Dingen ihren Lauf lassen? Malcolm war so gut wie erwachsen. Die Vyrad konnten jederzeit das Ritual mit ihm vollziehen, und dann lag die Entscheidung bei ihm, ob er einen Menschen seines Blutes beraubte oder nicht. Nur musste er sich an die Regel halten, den Menschen nicht zu töten, um die Vampire aller Clans nicht noch mehr der Gefahr der Verfolgung auszusetzen. Die Pyras nahmen es mit diesem Verbot nicht so genau. So wie es Ivy in den vergangenen Wochen hier in Paris erlebt hatte, töteten sie durchaus einige ihrer Opfer. Nur nicht gerade während einer Aufführung in der Oper! Und die Opfer der Pyras waren auch keine Mitglieder der besseren Gesellschaft, deren Verschwinden einen Skandal auslöste und alle Kräfte der Kriminalpolizei mobilisierte. Die Pyras beschränkten sich darauf, die dunklen Gestalten aufzugreifen und zu vernichten, die die Pariser gar nicht haben wollten und nicht vermissten. Dennoch verstießen die Pyras damit gegen die Regel, die die Clans gemeinsam aufgestellt hatten.
Malcolm dagegen wollte das Tabu sicher nicht brechen, Ivy fürchtete jedoch, dass er bald nicht mehr Herr über seine Taten sein würde. Sie konnte sich noch genau an die ersten Male erinnern, da sie Menschenblut gekostet hatte, an den Geschmack, der einem den Verstand raubte, das Prickeln
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