Die Erben der Nacht - Pyras
ihr Blick unverwandt auf die Bühne gerichtet blieb, war sie nicht wirklich da. Ihr Körper saß in seinem Sessel, ihre Hand lag in der ihres Begleiters, der ihr immer wieder bekümmerte Blicke zuwarf. Ihr Geist jedoch schwebte in einer anderen Welt durch bittersüße Erinnerung, die niemals, niemals enden durfte.
Erst als der nächste Akt zu Ende war und die Zuschauer in frenetischem Jubel von den Sitzen aufsprangen, um Meister Verdi zu huldigen, kehrte Latona in die Wirklichkeit zurück. Sie schüttelte sich und sah zu Bram, der sie aufmerksam musterte.
»Ist alles mit Ihnen in Ordnung?«
»Aber ja! Was sollte mir denn fehlen an diesem herrlichen Opernabend?«, erwiderte Latona, doch es klang selbst in ihren Ohren seltsam künstlich. Ihr Blick wanderte zu Loge fünf hinauf. Sie war leer. Die Vampire hatten die Vorstellung vorzeitig verlassen, und Latona wusste, dass sie heute Nacht nicht mehr zurückkehren würden. Noch einmal überfiel sie die Pein. Ja, so musste es sich anfühlen, in Einsamkeit zu sterben. Sie blinzelte heftig und presste sich die Handflächen gegen die schmerzende Brust.
Bram Stoker beobachtete sie noch immer, sagte aber nichts, und Latona war ihm dafür dankbar.
ASCHE ZU ASCHE, STAUB ZU STAUB
»Ich glaube, Hindrik ist ein wenig eingeschnappt«, vertraute Alisa Ivy auf dem Rückweg an.
»Wie kommst du darauf?«
»Er hat nicht einmal gefragt, wie es war oder warum wir nicht bis zum Ende der Vorstellung geblieben sind. Sieh nur, wie er sich gelangweilt gibt und in einem fort gähnt. Damit will er mich nur provozieren!«
»Hindrik und Matthias haben auch, während wir weg waren, kaum ein Wort gewechselt.«
»Hat Seymour dir das verraten?«
Ivy nickte. »Ja, und sie scheinen mir nicht die Einzigen, die verstimmt sind.«
Alisa sah sich um. Dass Anna Christina missmutig dreinsah, war nichts Ungewöhnliches, aber auch Malcolm wirkte ungewöhnlich verschlossen, und selbst Luciano schmollte. Die Verstimmung des Nosferas lag auf der Hand. Alisa hatte seinen Gesichtsausdruck gesehen, nachdem Ivy sich in der Pause ohne ihn davongemacht hatte. Was allerdings genau mit Malcolm geschehen war, wusste Alisa nicht und brannte geradezu darauf, es zu erfahren.
»Hat er die Jägerin gefunden?«, fragte sie leise.
Ivy zögerte, ehe sie ihr antwortete. »Ja, sie haben miteinander gesprochen.«
»Nur gesprochen ? Nun sag schon! Was ist zwischen ihnen vorgefallen?«, drängte Alisa, dabei war sie sich gar nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte.
Ivy schüttelte den Kopf. »Von mir wirst du nichts erfahren. Wenn Malcolm es dir irgendwann selbst erzählen will, ist das seine Sache. Ich werde nicht darüber reden. Auch nicht mit dir.«
Ihr Unmut über diese Antwort hatte sich noch nicht einmal in
ihrem Geist manifestiert, als Franz Leopold sich bereits darüber lustig machte.
»Und schon steigt die Zahl der Missmutigen unter uns weiter an. Ivy, ich fürchte, wir gehören nun zu einer bedrohten Minderheit!«
Franz Leopold feixte, und Alisa ärgerte sich, dass es ihr immer noch nicht gelang, ihn aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, ohne all ihre Kräfte dafür zu brauchen. Eine oder mehrere Ratten zu lenken, war jedenfalls einfacher.
Und das wundert dich? Willst du mich beleidigen? Du willst doch nicht ernsthaft die Geisteskräfte, die man bei einer Ratte einsetzen muss, mit denen vergleichen, die gegen einen Dracas nötig wären?
»Warum nicht? Sooo groß ist der Unterschied auch wieder nicht«, versuchte Alisa, ihn zu ärgern. Franz Leopold lachte nur.
»Gib dir keine Mühe. Auf mich wirst du deinen Missmut nicht abladen können. Tja, die Neugierde ist eine starke Macht, die nagt und beißt, wenn sie nicht befriedigt wird. Wie die Ratten, um auf das Thema zurückzukommen.«
»Nun tu nur nicht so, als würde dich nicht interessieren, was während der Pause in der Loge vorgefallen ist«, zischte die Vamalia. »Du hast das Menschenblut ebenfalls gerochen! Streite es nicht ab. Sogar Luciano hat es gewittert.«
»Natürlich ist mir das nicht entgangen«, protestierte Franz Leopold. »Aber ich muss mich - im Gegensatz zu dir - nicht mit Betteln aufhalten, wenn ich etwas zu erfahren wünsche.«
»Behaupte nun nicht, du hättest es in Ivys Gedanken gelesen«, höhnte Alisa. »Das nehme ich dir nicht ab. Ivy weiß sich wohl gegen deine Angriffe zu schützen, und freiwillig sagt sie es dir ganz bestimmt nicht, wenn sie mir die Auskunft verweigert.«
Franz Leopold tat so, als müsse er überlegen, dann
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