Die Erben der Nacht - Pyras
stöhnte und barg das Gesicht in den Händen. Alisa trat zu ihm und zog sie sanft weg.
»Das ist nicht deine Schuld und es ist ja nichts passiert!«
»Außer dass das halbe Haus fehlt, aber wer will schon kleinlich sein«, murmelte Franz Leopold.
»Wir sind alle unversehrt!«, sprach Alisa rasch weiter.
»Ja, aber wie wird es nun weitergehen?«, wollte Luciano wissen. »Wir können doch nicht die Nacht hier verplempern, bis wir wieder in unsere Särge müssen und die Sonne uns zur Untätigkeit verdammt. Noch einmal gelingt es Seymour sicher nicht, sie aufzuhalten, wenn sie zurückkommen. Und sie werden zurückkommen!«
»Das denke ich auch«, stimmte ihm Ivy zu, die mit den anderen die Halle durchquert hatte, bis sie direkt vor dem Schutthaufen der zusammengebrochenen Wand standen. »Seht, dort steht noch das Abbruchgerät, mit dem sie die Löcher geschlagen haben. Dass sie es zurückgelassen haben, spricht dafür, wie eilig es ihnen damit ist fortzufahren.«
Alisa kletterte über den Schutt hinweg zu der Konstruktion aus Holz und Eisen. Die anderen folgten ihr.
»Seht ihr? So haben sie es geschafft, unseren Schutz zu überwinden. Sie mussten nicht besonders nahe an das Haus heran und die Mauern nicht selbst berühren, um sie zu zerstören.«
»Wie? Ihr wusstet nichts von solchen Abbruchbirnen? Wo ihr euch doch so gut mit den Erfindungen der Menschen auskennt?«, schlug Franz Leopold weiter in die Kerbe.
»Dame Elina hat nicht damit gerechnet, dass sie auch diese Häuser abbrechen«, rief Alisa ärgerlich. »Das hat Hindrik doch erklärt. Du musst zuhören!«
»Wie man sieht, muss man stets auf alles gefasst sein, sonst kann das eines Tages schlimme Folgen haben.«
Dem war nicht zu widersprechen, und so schwiegen die Freunde und starrten auf den Abbruchkran, der wie ein bösartiges Monster in den Nachthimmel aufragte.
Was in dieser Nacht auf dem Speicherboden unter dem Dach ablief, konnte man schwerlich Unterricht nennen. Selbst Alisa war unkonzentriert und scheiterte an den leichtesten Übungen. Dame Elina hatte sich nur für eine kurze Ansprache zu den Erben begeben. Etwas Neues hatten sie dabei nicht erfahren. Dass sie es nicht vorhergesehen hatte, nun, das war offensichtlich, und dass die Versicherung, für die Erben habe keine ernsthafte Gefahr bestanden, nur Wunschdenken oder ein Beschwichtigungsversuch sein konnte, war ebenfalls jedem klar. Auch dass sie sich bis zum Morgen ein sicheres Versteck suchen mussten, leuchtete jedem ein. Nach diesen Worten hatte sie sich mit ihren Getreuen zurückgezogen. Das war bereits einige Stunden her, doch bisher war keine Nachricht zu den Erben vorgedrungen. Ein wenig entnervt brach Marieke den Unterricht ab, nachdem sie ihre Frage dreimal hatte wiederholen müssen, ehe sie überhaupt von einigen gehört, wenn auch nicht beantwortet wurde.
»Also gut«, gab sie mit einem Seufzer nach. »Ich werde mich erkundigen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt, und ihr verhaltet euch ruhig, bis ich zurück bin.«
Kaum war Marieke verschwunden, eilte Alisa zum Boden einen Stock tiefer, wo ihre Särge standen. Ivy und Luciano folgten ihr.
»Was hast du vor?«, wollte Luciano wissen.
»Packen!«
»Was?«
»Es ist ja wohl klar, dass wir das Haus heute Nacht noch verlassen müssen und irgendwo anders hinziehen. Zumindest für den
Übergang, bis der Clan eine neue, dauerhafte Bleibe gefunden hat. Eine Rückkehr wird es jedenfalls nicht geben, denn vielleicht schon morgen werden die Häuser nicht mehr stehen. Daher werde ich alles einpacken, was ich gesammelt habe.«
»Weiberflitterkram und Kleider«, vermutete Luciano und verdrehte die Augen. »Ich bin froh, dass ich nicht Chiaras Sachen einpacken muss. Die hat, glaube ich, Dutzende Paare von Handschuhen, Fächer, Spitzentücher, Röcke, Kleider, Umhänge, Schuhe und was weiß ich noch alles.«
Ivy lächelte. »Ich dachte, du kennst Alisa inzwischen. Ich tippe eher auf Bücher, Zeitungen und geheimnisvolle wissenschaftliche Instrumente, die die Menschen erfunden haben.«
Alisa grinste zurück. »Ja, das kommt schon eher hin. Ich lasse doch nicht meine schönen Bücher zurück! Los, ihr könnt mir helfen. Dort drüben sind ein paar leere Särge. In denen werden wir alles verstauen.«
Ivy bückte sich nach einem Stapel von Alisas Lieblingsbüchern: Geschichten von Edgar Allan Poe, Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde und In achtzig Tagen um die Welt , Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein und Samuel Butlers
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