Die Erben der Nacht - Pyras
Steinsplitter aus dem langen silbernen Haar und trat an die Lücke. Er sah die Männer, die das Seil wieder aufnahmen und die Birne für einen zweiten Schlag zurückzogen. Wie viele Attacken würde das Haus aushalten, ehe es in sich zusammenbrach und die Särge der Vamalia und ihrer Gäste unter seinem Schutt begrub? Es brauchte zwar mehr, um einen Vampir zu vernichten, doch es würde die Sache verkomplizieren, wenn er sie am Abend erst mühsam aus den Schuttmassen ausgraben müsste. Beherzt stieg Seymour über die Reste der zusammengestürzten Wand ins Freie. Der Staub hatte sich noch nicht gelegt, und so dauerte es einige Augenblicke, bis einer der
Arbeiter einen Schrei ausstieß. Er deutete auf Seymour und gestikulierte heftig. Der Vorarbeiter fuhr herum und schrie den Männern am Seil eine Warnung zu. Zu spät. Die eiserne Birne schwang ein wenig versetzt auf die aufgebrochene Hauswand zu und ließ einen neuen Hagel aus Steinen und Mörtel auf Seymour herabregnen. Eine Fensterscheibe brach. Glassplitter flogen wie Geschosse durch die Luft. Seymour duckte sich nicht. Glas und Steinsplitter schnitten ihm in die Haut. Blut rann aus mehreren Wunden im Gesicht, am Hals und an den Armen. Hatte er vorher schon wild und ein wenig verwahrlost gewirkt, das längliche Gesicht hager, die langen Haare strähnig bis auf die Schultern, so wirkte er jetzt wie ein entflohener Galeerensträfling. Der Vorarbeiter brüllte etwas, doch die Männer hatten die Arbeit bereits eingestellt und starrten den Mann an, der so unerwartet aus der Maueröffnung gestiegen war. Sichtlich wütend stürmte der Vorarbeiter auf Seymour zu und packte ihn an seinem Umhang. Ein Schwall Worte schlug ihm entgegen, die er nicht verstand. Nur dass sie zornig waren, konnte man nicht überhören. Seymour löste den Griff des Vorarbeiters und gab ihm einen leichten Stoß. Er war ein Schrank von einem Mann, dennoch stieß er einen Schmerzenslaut aus, hielt sich die Hand und taumelte zurück.
»Was fällt Euch ein, Euch am Haus meiner Familie zu vergreifen!«, fragte Seymour mit Eiseskälte in der Stimme. Der Vormann sah ihn fragend an. Offensichtlich verstand er kein Englisch. Na großartig! Langsam wiederholte Seymour, dass dies sein Haus sei, und deutete erst auf sich und dann auf die beiden miteinander verbundenen Häuser. Das musste er doch verstehen! Einer der Arbeiter trat vor und sagte etwas zu dem Vormann. Er warf Seymour ein paar englische Brocken hin und schien dann seine Erwiderung zu übersetzen. Der Vormann schüttelte den Kopf, doch er wirkte verunsichert. Er sah auf Seymour, dann auf seine Arbeiter, die inzwischen schwatzend in kleinen Gruppen zusammenstanden. Sein Blick wanderte weiter über die Abbruchmaschine und dann zu der eingerissenen Wand zurück. Die Glocke bei St. Annen schlug sechs. St. Katharina, die Nikolaikirche und der Michel auf der anderen Seite des Binnenhafens nahmen das Geläut auf. Das gab den Ausschlag.
»Feierabend!«, riefen die Arbeiter. Das verstand sogar Seymour. Die Männer luden ihre Vorschlaghämmer auf den Wagen, warfen Schaufeln, Eimer und Brechstangen hinein. Der Wagen, auf dem der Kran mit der Abrissbirne befestigt war, sollte wohl hierbleiben. Er wurde an den Straßenrand gelenkt, die Pferde ausgeschirrt. Fröhlich plaudernd nahmen die Arbeiter auf den Karren Platz. Einer zog einen Flachmann aus der Tasche und ließ ihn kreisen. Der Vormann warf ihnen missmutige Blicke zu. Er hatte sein Soll nicht erfüllt und würde irgendjemandem dafür Rechenschaft ablegen müssen. Vielleicht den beiden Männern in Anzügen, die am Tag zuvor die Tür geöffnet hatten?
Der Vormann wandte sich wieder dem Werwolf zu und redete auf ihn ein. Vermutlich drohte oder versprach er, morgen wiederzukommen. Doch das kümmerte Seymour nicht. In diesem Augenblick war nur wichtig, dass bis zum Sonnenuntergang nichts mehr geschehen würde, was den Erben und insbesondere Ivy und Mervyn Schaden zufügen konnte.
Seymour blieb auf seinem Posten, bis die Karren abgefahren und in der Straße kein menschliches Wesen mehr zu sehen oder zu wittern war. Eine Tür, die er hinter sich hätte schließen können, gab es nicht mehr. So zog er sich nur in eine düstere Ecke der Halle zurück, wechselte wieder zum Wolf und legte sich nieder, die riesige, aufgebrochene Lücke der Wand nicht aus den Augen lassend. So verharrte er reglos, bis die Sonne den Horizont berührte. Dann erhob er sich und stieg die Treppe hinauf, um Ivy von den Ereignissen des
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