Die Erben der Nacht - Pyras
sich ging. Gar nicht so dumm! Die Vamalia waren immer ohne Fledermäuse und Ratten ausgekommen. Sie lebten oben in den Straßen und in Häusern mit Fenstern, durch die das wenige Licht hereindrang, das auch sie als Vampire brauchten, um ihre Umgebung deutlich erkennen zu können. Aber würde das auch in ihrem zukünftigen Heim so sein? Bereits im Innern der Fregatte, die sie vorübergehend zu ihrem Domizil gemacht hatten, konnten sie sich ohne Lichtquelle nur langsamer als sonst fortbewegen.
»Wie macht ihr das? Euch mit den Ratten austauschen, meine ich. Ich könnte mir vorstellen, dass das mir und den anderen durchaus von Nutzen wäre.«
Fernand machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir können das schon von klein an. Wir haben es von den Älteren einfach übernommen, so wie wir sprechen gelernt haben. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, wie es ohne die Ratten ist.«
Gerade das ließ Alisa zweifeln, ob es für die Erben der anderen Clans ebenso einfach sein würde. Andererseits, sie hatten gelernt, sich in Wölfe zu verwandeln. Sie konnten Fledermäuse rufen und mit ihnen sehen. Da durfte es doch nicht so schwer sein, sich eine Gruppe Ratten zu Helfern zu machen.
Endlich erreichten sie das Ende des schmalen Abwasserkanals. Er mündete in einen wesentlich größeren, den Joanne collecteur des coteaux nannte. Sie folgten dem stinkenden Wasser, das in seiner breiten Rinne schäumend vor ihnen herschoss. Zum Glück stand es so niedrig, dass rechts und links der Rinne ein Streifen glitschiger Steine blieb, auf dem sie leidlich trockenen Fußes vorankamen. Nur einmal mussten sie durch das Wasser, als sie in einen anderen Sammler wechselten, der im rechten Winkel von Süden auf den Kanal stieß. Das Wasser floss reißend, war aber nicht so tief, dass sie es nicht gefahrlos queren hätten können. Ivy und Mervyn waren wie die Pyras barfuß unterwegs. Alisa trug ihre einfachen und robusten Schnürschuhe, während sich Franz Leopold und die anderen Dracas ihre feinen Lederschuhe vermutlich dauerhaft ruiniert hatten. Dann bogen sie wieder nach links ab.
»Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut«, sagte Hindrik ein wenig nervös. »Die Zeit läuft uns davon. Wo sollen wir uns niederlegen, wenn uns der Sonnenaufgang überrascht?«
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Joanne. »So weit ist es nicht mehr. Wir hätten auch schon einen der Aufstiege wie den dort vorn nehmen können - erkennt ihr die Eisensprossen?« Sie deutete in die Schwärze über ihnen, wo ganz schwach das Licht der Gaslaternen von draußen hereinsickerte. »Aber dann würden wir irgendwo mitten auf der Straße aus einem Kanaldeckel auftauchen und sicher
einiges Aufsehen erregen, selbst zu dieser Zeit. Nein, es ist besser, wenn wir einen Ausgang unten bei den Quais nehmen und dann die Böschung zur Brücke hinaufsteigen. Dort ist um diese Zeit sicher keiner unterwegs. Und wenn, dann ist es die Sorte von Menschen, die sicher nicht nach der Polizei ruft!«
Was blieb Hindrik anderes übrig, als den Pyras zuzustimmen und zu hoffen, dass ihre Einschätzung richtig war.
Fernand führte sie zu einem Gitter, durch das der vertraute Schein der Nacht drang. Es roch nach Wasser. Nach frischem Wasser, das sich als breiter Strom durch die Stadt wälzte. Joanne zog wieder ihre Schlüssel hervor und öffnete das Gitter. Die Erben und ihre Servienten strömten auf den Kai hinaus, auf dem sich hohe Bretterstapel türmten.
»Hier entlang!«
Joanne ließ ihnen keine Zeit, sich umzusehen. Sie eilte eine schmale Treppe auf die Brücke hinauf, die zu einer Insel im Fluss führte. Die Vampire huschten durch eine Gasse. Zu beiden Seiten erhoben sich Häuser mit vier oder fünf Stockwerken. Während die dem Wasser zu prächtigen Palais glichen, waren die in der Mitte der Insel schmaler und ärmlicher. Fernand eilte ihnen voraus zu einer zweiten Brücke. Als Alisa die Häuserschlucht hinter sich ließ, blieb sie unvermittelt stehen. Auf einer zweiten Insel ein Stück flussabwärts erhob sich eine mächtige Kirche mit zwei Türmen, die in quadratischen Plattformen endeten. Eine Glocke ertönte. Fünf Mal schlug sie und schallte über die Cité und die angrenzenden Stadtviertel von Paris.
»Das ist Notre-Dame, nicht wahr?«, hauchte Alisa hingerissen. »Ich habe die Geschichte des buckligen Glöckners von Victor Hugo gelesen. Ich kann es mir richtig vorstellen, wie er dort oben auf dem Turm sitzt, über das nächtliche Paris sieht und zu jeder vollen Stunde die Glocke
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