Die Erben der Nacht - Pyras
Miene blieb wie immer unbeweglich, aber Ivy ahnte, wie erleichtert er war.
»Dort ist noch einer«, sagte der grobschlächtige Pyras und wies mit dem Finger auf eine einfache, von Alter und Leichensäften verdunkelte Holzkiste. Ivy sah, wie es kurz um die Mundwinkel des Servienten aus Wien zuckte, dann war er wieder ernst, hob den Sarg auf und klemmte ihn unter den Arm. Alisa und Luciano tauschten Blicke. Sie hatten Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken.
»Das olle Ding kannst du Karl Philipp mitbringen«, schmollte Franz Leopold. »Mir suchst du etwas Besseres.« Nur Ivy merkte, dass es ihm eigentlich ganz egal war. Warum nur führte er dieses Theater auf? Wegen Alisa?
Endlich hatten sie genug Särge beisammen und machten sich auf den Rückweg. Als sie in die Höhlen unter dem Val de Grâce zurückkehrten, warteten die Servienten, die nach Vilette geschickt worden waren, bereits auf sie. Ihr Beutezug zu den Schlachthöfen war erfolgreich gewesen, und Tammo stieß einen Freudenschrei aus, als ihm der Duft von warmem Rinderblut in die Nase stieg. Auch die anderen drängten sich um die Pyras, um ihren Anteil zu bekommen. Satt und zufrieden ließ sich Luciano auf seinen neuen Sarg sinken.
»Ich glaube, so schlimm wird es hier in Paris gar nicht.«
»Ah, die Grundbedürfnisse des Nosferas sind gestillt«, sagte Franz Leopold. »Die anderen müssen noch ein wenig darauf warten wie die wissbegierige Alisa. Sie fiebert ja geradezu dem nächsten Abend entgegen, wenn unser Unterricht beginnt. Ich kann mich nicht entscheiden,
wer von euch beiden schlimmer ist!«, fügte er hinzu und ließ sich mit einem dramatischen Seufzer neben Ivy auf ihrem Sargdeckel nieder.
Latona flanierte am Arm ihres Onkels über den Champ de Mars.
»Ein geschichtsträchtiger Ort«, sagte sie. Ihr Onkel brummte etwas Unverständliches, doch Latona ließ sich nicht entmutigen und berichtete ihm, was sie in ihrem Büchlein, das sie unter dem Arm trug, gelesen hatte.
Die weite Fläche war vor mehr als einhundert Jahren zum Exerzierplatz eingeebnet und von einem Graben und einer Allee aus Ulmen umgrenzt worden. Hier hatte Ludwig XVI. 1790 beim Jahresfest anlässlich der Erstürmung der Bastille seinen Eid auf die Verfassung geleistet. Und hier fand nur ein Jahr später ein Massaker statt, bei dem Hunderte Pariser zu Tode kamen. Ihre Leichen wurden noch in derselben Nacht der Seine übergeben. Bürgermeister Bailly und General Lafayette gab man die Schuld und sie fielen beim Volk in Ungnade. Die Revolution nahm ihren Lauf und wurde immer radikaler. Die Guillotine begann ihre blutige Arbeit.
Das Marsfeld hatte danach noch viele Truppen gesehen. Die der beiden Kaiser, die der Restauration und die Truppen des Bürgerkönigs. Während Napoleon seine Männer gegen die Länder Europas geführt hatte, war die Armee der Könige nach ihm immer wieder gegen ihr eigenes Volk vorgegangen, bis nun endlich die dritte Republ ik eine Zeit des Friedens und des Fortschritts einzuläuten schien.
Dementsprechend kam dem Marsfeld heute eine ganz andere Aufgabe zu. Eine neue Weltausstellung wurde geplant. Noch größer. Noch spektakulärer. Das Palais du Trocadéro, Schauplatz der Weltausstellung vergangenen Jahres, das oben auf der Anhöhe von Chaillot thronte, würde nicht ausreichen, die Aussteller aus aller Welt zu beherbergen. Wieder sollten auf dem Marsfeld unzählige Pavillons errichtet werden. Der begnadete Ingenieur Gustave Eiffel hatte versprochen, sich etwas noch nie Dagewesenes auszudenken.
»Das Palais du Trocadéro wird als sehenswert beschrieben. Das
sollten wir uns nicht entgehen lassen«, schlug Latona vor. »Die Ausstellungsräume in den ehemaligen Steinbrüchen unter dem Hügel kann man noch immer besichtigen.« Ihr Oheim brummte wieder nur. Entschlossen blieb sie stehen.
»Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe mit dir gesprochen!«
Carmelo gab sich einen Ruck. »Aber ja, meine Liebe, natürlich höre ich dir zu. Ich habe mich nur gefragt, ob wir wohl für heute Abend noch Karten für die Oper bekommen.«
»Du willst heute Abend in die Oper?«, rief Latona entgeistert.
»Ja, warum nicht? Ich dachte, du freust dich darüber. Garniers Oper soll ein Meisterstück der Baukunst geworden sein. Das muss man gesehen haben.«
»Natürlich will ich in die Oper, aber ich habe nichts anzuziehen!«
Carmelo machte eine ungeduldige Handbewegung. »Du wirst in deinen Koffern schon etwas finden. Ich habe dir auf unserer Reise durch Persien und das Türkische
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