Die Erben der Nacht - Pyras
und in Paris einschleppten. Die leidenden Frauen, die kein Geld haben, müssen nach Saint Lazare.«
»Es wundert nicht, dass sie bei uns die französische Krankheit heißt«, meinte Alisa. »Und noch weiter im Osten die deutsche Krankheit. Die Krankheit wanderte wie die russischen Ratten - nur in die entgegengesetzte Richtung.«
Sie durchquerten einige mit Stützpfeilern unterbrochene Höhlungen und folgten dann wieder einem geraden Gang. Einige Biegungen weiter kamen sie in ein mit mächtigen Blöcken ummauertes Areal.
»Was ist das?«, wollte Alisa wissen.
»Wir sind unter dem Observatorium, das der Sonnenkönig für wissenschaftliche Experimente erbauen ließ. Damals stand es auf der grünen Wiese vor der Stadt.« Joanne öffnete eine verschlossene Eisentür. »Und jetzt auf zu den Skeletten.«
Tammos Augen glänzten. »Ich hoffe, ihr habt etwas zu bieten. Wegen ein paar Klappermännern mache ich mich nicht auf den Weg.«
»Wenn es dir um die Menge geht, dann sollst du nicht enttäuscht werden!« Fernand stieß Tammo grinsend in die Rippen. »Es sollen sechs Millionen sein.«
»Was? Sechs Millionen Tote wurden hier unten bestattet?«, rief Alisa erstaunt.
»Umgelagert trifft die Sache wohl eher«, erklärte Joanne. »Unser Unreiner Gaston musste damals Nacht für Nacht mit anfassen. Eigentlich war er wegen Totschlags im Bagno, im Zuchthaus, aber dann kam er zur Zwangsarbeit nach Paris und hat mit anderen Sträflingen geholfen, die Höhlungen mit Leichen zu füllen. Ist euch
Gastons Kleidung aufgefallen? Er trägt noch immer den roten Kittel der Sträflinge und die grüne Mütze auf dem rasierten Schädel.«
»Und wo kommen diese ganzen Toten her?«, wollte Luciano wissen und blieb dann unvermittelt stehen. Der Lichtschein der Laterne huschte über seltsame Gebilde, kunstvoll bis zur Decke aufgestapelt. »Das gibt es doch nicht! Ist es das, was ich denke?« Er trat näher. Die anderen folgten ihm.
»Falls du denkst, dass das fein säuberlich aufeinandergeschichtete menschliche Oberschenkelknochen sind, geschmückt mit Schädelgirlanden und anderen Mustern, so hast du durchaus richtig gesehen«, näselte Franz Leopold, konnte aber nicht verbergen, dass er ebenso beeindruckt war wie die Vampirinnen, die nur stumm dastanden und sich im umherhuschenden Strahl der Laterne umsahen. Über dem Türsturz entzifferten sie die Worte: Arrête! C’est ici l’empire de la mort.
»Halt! Hier beginnt das Reich des Todes«, übersetzte Ivy.
Sie umrundeten mächtige Knochenrondelle, folgten Galerien, passierten große rechteckige Räume. An allen Wänden stapelten sich die Knochen und Schädel.
»Sechs Millionen Skelette«, hauchte Alisa.
»Da hat euer Servient aber saubere Arbeit geleistet«, lobte Luciano und fuhr mit der Hand über die exakt ausgerichteten Knochenenden.
Fernand schüttelte den Kopf. »Nein, das war nicht seine Arbeit. Damals 1780, als sie mit dem Umräumen der Toten begannen, haben sie die Knochen und Leichenreste nur in die leeren Steinbruchkammern gekippt. Gemacht haben sie das, weil es einfach zu viele Tote gab. Das Hauptproblem stellte der zentrale Friedhof am Marktplatz dar. Die Leichen wurden so schnell übereinander begraben, dass es kaum noch Erde gab, sie zu bedecken. Der Friedhof wurde zu einem Hügel, von dem aus der Leichengestank in dicken Schwaden über den Markt und durch die Kirche zog. Die Beinhausgalerien waren vollgestopft und drumherum boten die Metzger und Bäcker ihre Waren an, standen Gemüsestände und waren Garküchen errichtet. Irgendwann brach eine der Begrenzungsmauern und die Leichen polterten in den Keller zwischen die Vorräte der benachbarten Häuser. Das gab den Ausschlag, den Cimetière des Innocents und andere
Friedhöfe in Paris zu schließen. Der Steinbruchinspekteur Guillaumot wurde beauftragt, die Toten an einen geeigneten Ort schaffen zu lassen. So wurden die Friedhöfe geleert, und vier Jahre lang rumpelten die schwarzen Totenzüge durch die Gassen nach Süden bis zum Place d’Enfer, begleitet von Mönchen mit Gebeten und Gesängen. Am Schacht angekommen, wurden sie dann heruntergeworfen, und Gaston und seine Kameraden füllten die verschiedenen Kammern mit den Überresten auf.«
»Und diese Kunstwerke aus Knochen? Wer hat die geschaffen und warum?«, fragte Ivy verwundert. Noch immer gingen sie zwischen Wänden aus Knochen und Schädeln entlang. Ab und zu waren Inschriften zu lesen oder ein steinerner Altar errichtet.
»Das hier entstand erst mehr als
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