Die Erben der Nacht - Pyras
Armenviertel mit ihren dicht gedrängten Menschenmassen vor. Doch nun entschuldigt uns.« Tammo und Joanne waren zu ihnen getreten.
»Kommst du?«, drängte Tammo, der vor Tatendrang geradezu vibrierte.
»Was habt ihr vor?«, wollte Luciano sogleich wissen.
»Uns ein wenig umsehen.« Tammo grinste. »Wir sitzen doch nicht die ganze Nacht hier in der Halle herum und langweilen uns, wo es unter Paris so viel Spannendes zu entdecken gibt.«
»Und was hast du davon, wenn es absolut finster um dich ist?«, fragte Alisa.
»Joanne und Fernand haben ihre Ratten.« Nun sahen die Freunde, dass Joanne drei der Nager um die Füße strichen. Fernands Begleiter saß wie üblich auf seiner Schulter. »Und ich habe zur Not das da.« Tammo hob eine Blendlaterne hoch.
»Wo hast du die her?«, rief Luciano begehrlich. »Das wäre natürlich nicht schlecht.«
»Von Joanne«, triumphierte Tammo und legte schützend die Arme um seinen Schatz. Leider hatten die Pyras nicht noch eine Lampe, die sie den Freunden hätten borgen können.
Alisa erhob sich und klopfte den Staub aus ihrem Kittel. »Dürfen wir uns euch anschließen? So ein kleiner Erkundungsgang wäre jetzt genau das, was ich brauche.«
»Nein, dürft ihr nicht!«, rief Tammo empört. »Wie war das in Hamburg? Da hast du keinen Wert auf unsere Gesellschaft gelegt. Warum jetzt dieser plötzliche Sinneswandel?«
»Es war bestimmt nicht, weil ich nichts mit Joanne oder Fernand zu tun haben wollte! Dass sie Pyras aus Frankreich sind, stört mich nicht im Mindesten.«
»Ach, dann ging es um mich?«
»Ja, kleiner Bruder, du hast es erraten. Deine Gegenwart ist manches Mal nur anstrengend, meist aber schlichtweg unerträglich.«
»Warum willst du dann mit uns kommen?«, maulte Tammo.
»Von Zeit zu Zeit muss man der Sache wegen eben Opfer bringen.«
Tammo holte tief Luft, aber Fernand stieß ihm spielerisch den Ellbogen in die Rippen. »Halte ein, Kleiner. Den Zwist mit deiner Schwester kannst du später austragen. Und nun folgt mir, wenn ihr diese Nacht noch etwas von unserem Paris sehen wollt!«
Forschen Schrittes ging Fernand voran. Die anderen folgten dem Pyras erwartungsvoll. Seine Ratte stieß einen Pfiff aus.
DIE KATAKOMBEN VON PARIS
Alisa hatte das Gefühl, die beiden Pyras würden sie im Kreis herumführen. »Das nicht gerade«, gab Fernand mit einem Grinsen zu, »aber ganz so falsch ist dein Gefühl nicht. Wir mussten erst ein gutes Stück nach Osten gehen, ehe wir zu einem Durchbruch gelangten, der uns zu den Stadtteilen führt, die südlich des Boulevard de Port Royal liegen. Im Zuge der Arbeiten des Generalinspekteurs haben sie eine lange Stützmauer unterhalb des Boulevards gebaut. Ich glaube, da ist mal ein ganzer Straßenzug abgesackt. Und nun gibt es einen langen gemauerten Gang in Ost-West-Richtung, aber eben keine Durchgänge mehr nach Norden, die zu unseren Kavernen unter dem Val de Grâce führen.«
»Warum habt ihr euch nicht wieder welche freigegraben?«, wunderte sich Luciano.
Fernand hob die Schultern. »Ich glaube, den Seigneurs ist es gar nicht so unrecht, dass unser Lager nicht nach allen Seiten hin offen ist. Sie müssen schließlich jeden möglichen Zugang schützen. Auch im Westen schließt ein Bereich an, der noch aus massivem Gestein besteht und nur von wenigen langen Gängen durchzogen wird, bis sie unter dem Observatorium und dem Jardin du Luxembourg wieder auf die nächsten Steinbrüche stoßen. Jedenfalls haben wir dort hinten den Durchbruch unter dem Boulevard passiert und gehen jetzt nach Südwesten, wo unser heutiges Ziel zu finden ist. Auf dem Rückweg können wir dann den geraden, gemauerten Gang nehmen, der eine Ewigkeit unter der Rue du Faubourg Saint Jacques auf die Seine zuführt, und dann zur Abtei hinüberqueren.«
Ivy hatte wieder eine Fledermaus gefunden, doch Tammo und Luciano benutzten lieber die Blendlaterne, um sich zu orientieren und die Details der labyrinthischen Gänge zu erfassen. Fernand ging voraus. Joanne blieb ein wenig hinter ihnen, vielleicht damit keiner
der Gruppe zurückblieb. Immer wieder hielt Fernand an und sagte ihnen, unter welchen Gebäuden oder Straßenzügen sie sich gerade befanden.
»Seht ihr das Schild? Sous l’Hôpital des Vénériens . Wir sind also unter dem Cochin, wie es heute heißt, dem Krankenhaus, in dem sie vor allem Männer behandeln, die an der Syphilis leiden oder der spanischen Krankheit, wie wir sie hier auch nennen, nachdem die Spanier sie aus der Neuen Welt mitbrachten
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