Die Erben der Nacht - Pyras
zwei Dutzend Jahre später«, klärte Joanne ihre Begleiter auf. »Nach der großen Revolution, als Héricart Thury den Posten des Generalinspekteurs der Steinbrüche bekam.«
»Und da schickte er seine Leute her, um Millionen alter Knochen zu sortieren und zu Mustern zu ordnen?«, fragte Franz Leopold ungläubig.
»Wozu dieser Aufwand für etwas, das niemand je zu Gesicht bekommt?«, fragte sich auch Alisa.
»Aber es sollten ja alle sehen«, widersprach Joanne. »Thury ließ die Katakomben herrichten, um sie einer möglichst großen Zahl an Besuchern zeigen zu können. Zur Weltausstellung vergangenes Jahr waren die Katakomben jeden Samstag geöffnet. Sie müssen sich eine goldene Nase verdient haben, so wie sich die Schlangen am Eingang reihten.«
»Warum kommen die Menschen hier herunter?«, fragte Luciano.
Fernand hob die Schultern. »Keine Ahnung. Es macht ihnen einfach Spaß. Sie gruseln und ängstigen sich ein wenig, genießen den Schauder und den Ekel und glauben dennoch, genau zu wissen, dass ihnen hier in der Unterwelt nichts passieren kann und es einen sicheren Weg zurück an die Oberfläche gibt.«
»Vermutlich hat Fernand recht«, stimmte ihm Ivy zu. »Das Dunkle, Verbotene zieht die Menschen an. Vielleicht weil sie dabei die Misere ihres Alltags für ein paar Stunden vergessen können.«
»Und dafür sind sie bereit, Geld zu bezahlen?«, wunderte sich Luciano.
Joanne nickte. »Es ist unter den Parisern auch immer noch üblich, sonntags ab und zu einen Ausflug mit der ganzen Familie in ein Leichenschauhaus zu unternehmen. Und nicht nur die einfachen Leute lieben das Makabre. Selbst Kaiser Napoleon III., der Kanzler Bismarck von Preußen und irgendein schwedischer Prinz waren hier unten und ließen sich von den Wächtern der Toten mit Laternen und Fackeln herumführen. Seht ihr die Rußspur an der Decke? Die Menschen haben sie absichtlich angebracht, damit keiner auf der Besichtigungstour verloren geht und sich in der Unendlichkeit des Labyrinths verirrt. Menschen haben ja einen so schlechten Orientierungssinn!«
Die Vampire folgten dem Pfad weiter. Kein Zweifel, noch immer kamen hier regelmäßig Menschen her. Der Duft von Männern, Frauen und Kindern, in deren Adern noch wohlschmeckendes, warmes Blut floss, vermischte sich mit dem Geruch des Todes.
»Was ist denn das?«, rief Tammo plötzlich, sprang über eine Barriere hinweg und beugte sich über einen von mehreren Tischen mit Schädeln und Knochen. Sie waren für menschliche Knochen zu lang, zu dünn oder zu krumm, die Schädel waren seltsam verwachsen, hatten Wülste oder Spalten, und doch schienen sie auch zu keinem Tier zu gehören.
»Cabinet de pathologie«, las Ivy das Schild an der Wand vor.
»Thury hat eine ganze Sammlung von abnormalen Knochen angelegt, um sie den Besuchern vorzuführen. Das ist nur ein kärglicher Rest, der mit fast jeder Führung weiter schrumpft. Die Leute nehmen sich gern ein Erinnerungsstück mit hinauf und da sind die ›Monsterschädel‹ natürlich eine begehrte Beute.«
Alisa und Ivy sahen einander an und schüttelten dann einmütig die Köpfe. »Verstehen werde ich die Menschen nie«, prophezeite Alisa.
»Wozu sollte das auch gut sein?«, wandte Franz Leopold ein. »Sie sollen uns stärken und berauschen, wenn ihr Blut durch unsere Kehle rinnt. Wozu müssen wir sie verstehen?«
Die Nacht verging wie im Flug. Bald mahnte Ivy zur Rückkehr
und Fernand übernahm wieder die Führung. So kehrten sie auf dem kürzesten Weg zu den Höhlen unter dem Val de Grâce zurück, wo ihre Särge sie erwarteten.
Latona drehte sich ein letztes Mal vor dem Spiegel in der Halle, ehe sie ihr neues Kleid ein wenig raffte und die behandschuhte Hand auf den Arm ihres Onkels legte.
»Ist die Dame nun endlich bereit?« Ungeduld schwang in seiner Stimme mit, selbst wenn sie noch immer freundlich klang. Die Erfahrung sagte Latona allerdings, dass Vorsicht geboten war, sollte der Abend nicht in Streit und Tränen enden.
»Ja, ich bin bereit. Obwohl wir uns nicht beeilen müssen. Wer zur Gesellschaft gehört, kommt nicht mit dem gemeinen Volk eine Stunde vor der Vorstellung in die Oper.«
Carmelo lächelte auf seine Nichte herab und kniff ihr in die Wange. »Sind wir so wichtig, dass wir zu spät kommen sollten?«
»Aber ja«, antwortete Latona würdevoll. »Es ist entscheidend, den richtigen Zeitpunkt des Erscheinens abzupassen. Es sollten bereits möglichst viele Herrschaften versammelt sein, damit sie unseren Einzug durch
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